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Die muslimische Sicht (13. bis 18. Jahrhundert)
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Die muslimische Sicht (13. bis 18. Jahrhundert)

Stephan Conermann
Die muslimische Sicht (13. bis 18. Jahrhundert)

Mit einem Beitrag von Jamal Malik

352 Seiten
Frankfurt am Main 2002
ISBN 978-3-934157-22-4

Buch 32,00 Euro  (vergriffen)
E-Book (PDF): 22,00 Euro

22,00 €
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Geschichtsdenken der Kulturen – Eine kommentierte Dokumentation
Acht Bände
Herausgegeben von Jörn Rüsen und Sebastian Manhart
Südasien - Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Bd. I bis III)
Band II: Stephan Conermann (Hg.)
Die muslimische Sicht (13. bis 18. Jahrhundert) 

Hatten die Inder ein Geschichtsbewußtsein? Diese Frage, die viele Forscher negativ beantwortet haben, zeigt den allgemeinen Widerwillen europäischer (aber auch indischer) Wissenschaftler, das islamische Indien als einen inhärenten Teil der südasiatischen Geschichte anzusehen. Dabei mutet es durchaus absurd an, die Muslime aus der kollektiven Vergangenheit Indiens auszublenden, waren sie doch für beinahe sechs Jahrhunderte die Machthaber über weite Gebiete des Subkontinentes. In diesem Band unternimmt Stephan Conermann den Versuch, anhand von ausgewählten Auszügen aus persischen historiographischen Schriften aufzuzeigen, daß die muslimische Gemeinde Südasiens selbstverständlich auch in vormodernen Zeiten über ein ausgeprägtes Historisches Denken verfügte. Darunter werden diejenigen »mentalen (emotionalen und kognitiven, unbewußten und bewußten) Operationen« verstanden, »durch die die Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerung zu Orientierungen der Lebenspraxis verarbeitet wird« (Jörn Rüsen). Stephan Conermann untersucht die von ihm übersetzten Texte daher nicht in erster Linie auf ihre Faktizität, ihre philologischen Feinheiten oder ihre ereignisgeschichtlichen Aussagen hin, sondern er stellt die Frage, in wie weit sich in ihnen ein so verstandenes Historisches Denken widerspiegelt.

Die herangezogenen Quellen bedürfen einer ausführlichen Kommentierung und Kontextualiserung. Dies leistet im ersten Teil der Arbeit eine Einführung in die Probleme der Erforschung des muslimischen Geschichtsbewußtseins. Mit ihrer Hilfe ist es dem Leser möglich, einen fundierten Einblick in die faszinierende Welt der kollektiven historischen Erinnerung der Muslime im allgemeinen und der Anhänger des Islams während der Zeit des Delhisultanates (1206-1526) und des Moghulreiches (1526-1858) im besonderen zu bekommen.


Vorwort

»Unglücklicherweise schenken die Hindus der historischen Ordnung der Dinge wenig Beachtung. Sie sind sehr nachlässig, wenn es darum geht, über die chronologische Reihenfolge ihrer Herrscher zu berichten oder ihnen (sonstige historische) Informationen abverlangt werden. Sie sind dann hilflos, wissen nicht, was sie sagen sollen, und suchen ihr Heil darin, daß sie Märchen erzählen.«1

Mit diesem Zitat des muslimischen Universalgelehrten al-BÍrÚnÍ (starb um 1048) vom Beginn des 10. Jahrhunderts haben viele Südasien-Historiker die Abwesenheit eines ›Historischen Denkens‹ in den traditionellen, nichtislamischen Gesellschaften des Subkontinents zu belegen versucht. Dieses mangelnde Interesse an dem Phänomen ›Geschichte‹ habe – so wurde weiter argumentiert – letztlich dazu geführt, daß es in Indien im Gegensatz zu den sogenannten asiatischen und europäischen ›Hochkulturen‹ nicht zur Herausbildung einer Geschichtsschreibung gekommen sei.2 Zwar haben einige Forscher dieser These schon am Ende des 19. Jahrhunderts widersprochen, doch scheinen erst im Zuge des ›linguistic turn‹ innerhalb der Geisteswissenschaften die Stimmen gehört zu werden, die das Wehklagen über das Fehlen eines indischen Thukydides aufgeben wollen. Sie plädieren dafür, sich vor allem den zumeist anonymen Sanskrittexten noch einmal mit veränderten Fragestellungen zu nähern, um auf diese Weise ein ausgeprägtes indisches ›Historisches Denken‹ besser ermitteln zu können.3

Die jüngere Diskussion um das Verhältnis von Historik und Historiographie, Poetik und Erzählliteratur, Sprache und Textualität hat gezeigt, daß es zwischen Geschichtsschreibung, Poetik und Rhetorik auch nach deren vermeintlichen Trennung und ›Verwissenschaftlichung‹ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. In vielen Studien ist die Stichhaltigkeit dieser eigentlich gar nicht so neuen Hypothese bewiesen worden. Leider hat man sich dabei beinahe ausschließlich mit der europäischen und amerikanischen Historiographie nach 1800 beschäftigt und weder andere Kulturen noch ›vormoderne‹ Geschichtswerke in die Betrachtungen einbezogen. Dabei scheint es gerade interessant zu sein, ältere Chroniken und verwandte Schriften nicht mehr nur auf Fakten und soziale Phänomene hin zu untersuchen, sondern vielmehr der Frage nachzugehen, wie diese ›Kunst‹-Werke ›gemacht‹ sind. Was beabsichtigt der Autor mit seinem Werk? Welche narrativen Techniken wendet er zu welchem Zweck an? Welche Topoi, Stereotypen, Mythen, Archetypen, Legenden benutzt er? Wie sahen ›Literarischer Kanon‹ und ›Literarisches Klischee‹ aus? Welche kultursemiotischen Aussagen können wir erkennen? Was kann man über das ›Historische Denken‹, das in den Chroniken zum Ausdruck kommt, sagen? Versucht der Verfasser, vermittels der Geschichte Sinn zu stiften? Wenn ja, welchen? Wie sieht es mit sprachlichen Konnotationen aus? 4

Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt für die seit 1994 im Rahmen des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld regelmäßig zusammengekommene Forschergruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Quellenmaterial zum ›Historischen Denken‹ in Südasien zusammenzustellen. Schließlich einigte man sich darauf, drei Bände zu publizieren, wobei man versuchen wollte, die obsolete Periodisierung Klassisches Altertum – Muslimisches Mittelalter – Britische Neuzeit Unabhängigkeit zu durchbrechen. Von Beginn an hatte das Projekt jedoch mit Widrigkeiten zu kämpfen: Zum einen erwies sich die Zusammenarbeit und die Kommunikation der zumeist an unterschiedlichen Universitäten arbeitenden Wissenschaftler als überaus schwierig. Zum anderen zeigte es sich, daß die für den hier vorliegenden zweiten Band zu bearbeitenden nicht-muslimischen Texte ausblieben. Kein Indologe konnte oder wollte sich in dieser Form mit dieser Epoche indischer Geschichte beschäftigen, zumal von ihm eine enorme Übersetzungsarbeit zu leisten gewesen wäre. Aus diesem Grunde blieb dieser Band ausschließlich in meinen Händen. Da ich mich allerdings nur in der Lage sah, die muslimische Sicht darzustellen, umfaßt dieser zweite Band leider allein die Zeit der islamischen Dominanz auf dem Subkontinent (13. bis 18. Jahrhundert) und befaßt sich darüber hinaus ›nur‹ mit der Sicht der Muslime. Doch selbst hier ergaben sich große Probleme. Eine Durchsicht der in Frage kommenden indo-persischen Literatur zeigte, daß es so gut wie keine Texte gab, die sich direkt mit dem ›Historischen Denken‹ in Verbindung bringen ließen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß eine Reihe von Texten ausgewählt wurde, die auf den ersten Blick nicht viel über ein indo-muslimisches ›Historisches Denken‹ aussagen. Dieser Bezug mußte in der Einleitung erst mühsam hergestellt werden. Aus diesem Grunde haben die einführenden Gedanken ausdrücklich den Charakter einer Vorstudie, die historiographisch deutbare Texte unterschiedlichen Alters unter dem Gesichtspunkt eines normativen muslimischen ›Historischen Denkens‹ zu analysieren versucht.

Oder anders gesagt: Die Übersetzungen sind aus sechs Jahrhunderten, d.h., sie sind in sehr unterschiedlichen Zeiten an zum Teil sehr verschiedenen Orten verfaßt worden. Bevor weitere Untersuchungen zum Thema indo-muslimischen ›Historischen Denkens‹ vorliegen, die aufgrund einer ›kumulativen Evidenz‹ sinnvolle Verallgemeinerungen über ein regionales, gruppen- oder gar gesellschaftsspezifisches ›Historisches Denken‹ im muslimisch dominierten Indien zwischen 1200 und 1800 zulassen, wurde erst einmal die Ebene des übergeordneten – vielleicht als allgemeinmuslimisch zu bezeichnenden – normativen muslimischen ›Historischen Denkens‹ auf dem Subkontinent näher betrachtet.

Einzelne Abschnitte der Einleitung sind in ihren unterschiedlichen Entwicklungsphasen bereits in Form von Vorträgen einem Fachpublikum vorgestellt worden: Kapitel 2 am 13. November 1998 auf dem Wolfenbütteler Symposium Regionalität und Bewußtseinsbildung in der Vormoderne. Okzident und Orient im Kulturvergleich sowie am 17. Dezember 1998 auf Einladung der Abteilung ›Moderne Indologie‹ des Südasien-Institutes der Universität Heidelberg und Kapitel 3.2. am 21. Januar 1998 im Rahmen der Vortragsreihe Modernity and the Past des ›Berliner Seminars‹ des Arbeitskreises ›Moderne und Islam‹ sowie am 14. Mai 1998 auf Einladung des ›Orientkolloquiums‹ der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen. Darüber hinaus findet man einige der in Kapitel 1 formulierten Gedanken in Conermann, S., »Einige allgemeine Überlegungen zum vormodernen ›Historischen Denken‹ der Araber«, in: Orientalistische Literaturzeitung 93 (1998), S. 141-157. Schließlich haben mir die hier zusammengetragenen Ergebnisse bei der Ausarbeitung meiner Habilitationsschrift zum Thema Funktion und Formen indo-persischer Hofgeschichtsschreibung während der Mogulzeit (932-1118/1526-1707) 5 als überaus nützliche Vorstudien gedient. Aus diesem Grund finden sich auch eine Reihe von Texten [# 6, 8, 10, 21-24 und 27-32] in dieser Arbeit wieder.

Bei den – eigentlich immer problematischen – Übersetzungen habe ich mich an vielen Stellen dazu durchgerungen, auf eine wortwörtliche Übertragung zugunsten einer flüssigeren Lesbarkeit zu verzichten und vor allem manche überaus lange und blumige Passage in mehrere Sätze zu unterteilen, was des öfteren syntaktische Veränderungen zur Folge hatte. Ich halte dies jedoch für durchaus legitim, da diese Arbeit ja nicht den Anspruch erhebt, in erster Linie philologischer Natur zu sein, sondern den Leser vielmehr in Texte einführen möchte, die – zumindest indirekt – etwas über das (normative) muslimische ›Historische Denken‹ in Südasien in der Zeit vom 13. bis zum 18. Jahrhundert aussagen.

An dieser Stelle möchte ich mich schließlich bei Jamal Malik für seinen Beitrag zur Reform des Islam in Indien im 18. Jahrhundert bedanken. Nach einigem Zögern habe ich mich entschlossen, seine Einleitung und seinen Text als Kapitel C meinen Ausführungen und Übersetzungen separat folgen zu lassen. Dies schien mir zweckmäßig und angebracht, da die einführenden Bemerkungen Jamal Maliks zusammen mit der von ihm ausgewählten Quelle eine Einheit bilden und darüber hinaus inhaltlich, aber auch chronologisch eine hervorragende Ergänzung und Fortsetzung meiner eigenen Ausführungen im ersten Teil des Bandes darstellen.

Stephan Conermann
Hamburg, im Dezember 2001


1 Al-BÍrÚnÍ, KitÁb fÍ ta½qÍq mÁ lil-Hind. Ed. ¼aidarÁbÁd 1958, S. 349.
2 Eine gute Einführung in das Thema ist Berkemer, G., Literatur und Geschichte im vormodernen hinduistischen Südasien, in: Rüsen, J./Gottlob, M./Mittag, A. (Hg.), Die Vielfalt der Kulturen. Frankfurt am Main 1998, S. 145-191. Zu Literaturangaben siehe insbesondere Anm. 1.
3 Siehe vor allem Schnellenbach, C., Geschichte als ?Gegengeschichte?? Historiographie in KalhaÆas RÁjataraÉgiÆi. Marburg 1996.
4 Einen Fragenkatalog zum ?Historischen Denken? bietet auch Rüsen, J., Theoretische Zugänge zum interkulturellen Vergleich historischen Denkens, in: Rüsen/Gottlob/Mittag, Vielfalt [wie Anm. 2], S. 37-73.
5 Erscheint 2002 im Wiesbadener Dr. Ludwig Reichert-Verlag als Band der Reihe ?Iran-Turan?.


Der Autor

Stephan Conermann, PD Dr. phil. habil., geb. 1964, hat Geschichte, Islamwissenschaft und Slavische Philologie in Kiel, Poznan und Moskau studiert. Zur Zeit arbeitet er als Oberassistent am Seminar für Orientalistik, Abteilung Islamwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. In seinen Forschungen beschäftigt er sich mit Transformationsprozessen innerhalb islamischer Gesellschaften im Zeitalter des europäischen Kolonialismus und Imperialismus; mit dem Islam in Indien, Zentralasien und Nordafrika und mit der Kultur und Geschichte der Mamlukenzeit.

Wichtige Veröffentlichungen: Der Indische Ozean in historischer Perspektive (1998); (Hg.), Mythen, Geschichte(n), Identitäten: Der Kampf um die Vergangenheit (1999); Historiographie als Sinnstiftung. Indo-persische Geschichtsschreibung während der Mogulzeit, 932-1118/1526-1707 (2002); (Hg., zusammen mit Josef Wiesehöfer), Carsten Niebuhr (1733-1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.-10. Oktober 1999 in Eutin (2002); (Hg., zusammen mit Anja Pistor-Hatam), Die Mamluken. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur in Gedenken an Ulrich Haarmann (1942-1999) (2002).