Mitten im Umsturz Europas
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Mitten im Umsturz Europas (Buch)

Helmut Veil
Mitten im Umsturz Europas
Der Geologe und Revolutionär Faujas de Saint-Fond (1741 bis 1819)

244 Seiten, broschiert, 25 Abbildungen
Frankfurt am Main 2012
ISBN 978-3-941743-27-4

Buch 24,80 Euro
E-Book (PDF) 16,80 Euro

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Faujas de Saint-Fond war zu Lebzeiten ein bekannter Mann. Als Amtsrichter der Provinz war ihm mit einer Arbeit über die erloschenen Vulkane der Ardèche der Sprung nach Paris an die Seite des Königs der Naturgeschichte Buffon gelungen. Fasziniert von den Ideen der Aufklärung und den Leistungen der britischen Industrie wurde er zum Propagandisten der Ballonaufstiege und einer wissenschaftlich betriebenen Landwirtschaft, zum Bergwerksinspektor, Unternehmer und frechen Spion gegen Frankreichs Rückständigkeit. Der hitzige Revolutionär in der Provinz und in Paris, der Requisiteur in den besetzten Gebieten durchlebte die Exzesse der Revolution, ohne seinen Kopf zu verlieren, und endete doch als Anhänger der Bourbonen.


Helmut Veil, geb. 1943, war Allgemeinarzt in Frankfurt am Main und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Naturwissenschaften. Er untersucht die kulturellen und ideellen Voraussetzungen epochaler Gärungsprozesse der Naturerkenntnis, in denen sich festgefügte Erklärungsmuster zersetzen und neue noch nicht etabliert haben.



Inhalt

Vorwort  7

Jesuitenzögling und Provinznotabler    9
Advokat und Amtsrichter im Ancien Régime  17
Die Parallelwelt eines frustierten Juristen  25
Bergbau als vermutete Geldquelle  33
1778: Die anvisierte Landung in Paris gelingt  39
Ein halbherziger Physiokrat: Unternehmer für Pouzzolan  47
Die Epochen der Natur und die Erde ein Schrumpfkopf  53
Voyage de Paris  57
Straucheln auf Pariser Bühne  65
England und Schottland: frecher Industriespion und verwöhnter Geologe  71
Vom Mineninspektor nur verwischte Spuren  81
Weit mehr als nur Geologe  91
Der Tod Buffons und die Reliquien der Vernunft  95
Revolutionär in der Provinz  99
Revolutionär in Paris  103
Blutige Jahre und nationales Aufbäumen  109
Faujas verschwindet aus Paris  117
Requisitionen in Belgien, Holland und Deutschland  125
Wieder von der Politik eingeholt. Der Staatsstreich vom 18. fructidor  135
Die Kunst des Mutmaßens. Spion oder Wissenschaftler?  139
Ein Krokodil und der Verfall der wissenschaftlichen Reputation  153
Ein trügerischer Frieden und ein Feuerwerk von Publikationen  163
1805-1807: Italien und darüber hinaus  173
Der Geologe im Krieg  181
Fossilien menschlicher Geschichte  195
Die letzten Jahre unter Napoleon  197
Von den Bourbonen zu den Bourbonen  199
18.7.1819 Tod in Loriol  201
Epilog  203

Anhang  205
Bibliographische Bemerkungen  205
Bibliographie  207
Literatur  215
Zeittafel  242
Der Autor  244



Vorwort

Barthélemy Faujas de Saint-Fond (1741 bis 1819) war zu Lebzeiten ein bekannter Mann. Er hatte, fasziniert von den Ideen der Aufklärung und den Leistungen der britischen Industrie, seinen Posten eines Amtsrichters in Montélimar, einer kleinen Provinzstadt des Dauphiné im Süden Frankreichs, verkauft und mit einem reich illustrierten Folianten über erloschene Vulkane seiner Heimat den ungekrönten König der Naturwissenschaften, Buffon in Paris, verführt. Er wird der erste Geologieprofessor Frankreichs und Bergwerksinspektor. Aber das ist es nicht, was ihn zu einer schillernden Figur in aufgeregten Zeiten macht. Es sind seine theatralischen Auftritte, seine Wandlungsfähigkeit vom Royalisten zum Jakobiner und zurück, seine versteckten und offenen Spionageeinsätze und seine Raubzüge in Frankreichs Diensten, die ihn über seine wissenschaftliche Selbstüberschätzung hinausführen. Es ist ein Leben, in dem auf den Pariser Urknall sein provinzielles Echo folgt und auf den Tyrannen tötenden Krieg ein Wissenschaftler als menschheitsbeglückender Requisiteur. Frankreichs Historiker haben einen Bogen um ihn gemacht und ihn außerhalb des kleinen Kosmos des botanischen Gartens weitgehend ignoriert. Er gehörte nicht auf den Olymp einer Wissenschaft der neuen Zeit, die mit Lamarck der Biologie, mit Cuvier der Geologie und mit Lavoisier der Chemie ihren Stempel aufgedrückt hat. Faujas de Saint-Fond ist vielmehr zum schmutzigen schwarzen Schaf unter diesen gesäuberten Heroen geworden, mit dem kein revolutionärer Staat zu machen ist, auch weil er ohne Skrupel prahlen und lügen konnte und sich gelegentlich mit fremden Federn schmückte.

Seine Welt war weitläufiger und breiter gefächert als die des vergleichenden Anatomen Cuvier, der Paris nicht verlassen hat, und seine Stärken lagen nicht in seiner Spezialdisziplin, in der er reüssieren wollte, in der er von der schwächelnden Erdtheorie seines Mentors Buffon nicht losgekommen ist und mit fehlerhaften Schnellschüssen von sich Reden machte, sondern in seiner lebhaften Offenheit für Innovationen in Industrie und Landwirtschaft. Er dokumentierte in einem nie gesehenen Medienrummel die ersten Ballonaufstiege. Er versuchte, auf seiner Domäne in Loriol bei Montélimar eine wissenschaftliche Landwirtschaft zu betreiben, und stürzte sich als Mineninspektor auf eigene Faust in Geschäfte mit Kohle, Teer und vulkanischem Gestein. Er war ständig unterwegs und so beweglich, dass seine Spuren bei verdeckten Einsätzen verschiedener Herrn nur mit kriminalistischem Spürsinn zu verfolgen sind. Obwohl das Musterbeispiel eines arrivierten Profiteurs des Ancien Régime, wird er zum hitzigen Revolutionär, der in seiner Provinzheimat Kirche und Adel attackiert, in Paris mit seinen Kollegen eine verknöcherte Wissenschaftsorganisation demokratisiert und es im Gegensatz zu vielen seiner Freunde schafft, nicht auf der Guillotine zu landen oder in den Fallstricken des blutigen Parteiengezänks zu straucheln. Von Napoleon wird er zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen, und die zurückgekehrten Bourbonen krümmen ihm kein Haar. Wie der Polizeiminister Fouché ist Faujas de Saint-Fond ein Überlebenskünstler, dessen Kreislauf ohne Blessuren bei den gleichen Herren endet, wo er begonnen hat. Blessuren werden ihm jedoch in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Bewertung von Fossilien beigebracht, so schwerwiegende, dass er kaum noch beachtet wurde und ihm außer seiner geologischen Sammlung nur der nackte Professorentitel blieb.

Einem solchen Menschen auf den Fersen zu bleiben, käme der Verfolgung eines Hasen gleich. Statt ihm immer nur hinterher zu hecheln, werde ich unter Beibehaltung des chronologischen Rahmens Aktivitäten zusammenfassen, die als Schwerpunkte seines umtriebigen Lebens mitten im Umsturz Europas gelten können.