Die Krise der Arbeitsgesellschaft im Bewußtsein deutscher Unternehmensführer
Die Krise der Arbeitsgesellschaft im Bewußtsein deutscher Unternehmensführer
Eine Deutungsmusteranalyse
Forschungsbeiträge aus der Objektiven Hermeneutik
Herausgegeben von Ulrich Oevermann, Roland Burkholz und Christel Gärtner
Frankfurt am Main 2002
ISBN 978-3-934157-18-7
Buch 32,90 Euro (vergriffen)
E-Book (PDF) 22,80 Euro
Inwiefern verfügt die wirtschaftliche Elite der Bundesrepublik Deutschland über ein ausgeprägtes Krisenbewußtsein? Die vorliegende Untersuchung fragt dabei nicht nach den unternehmensinternen, tagespolitischen Entscheidungen, sondern nach den sogenannten »Rahmenbedingungen«, in die eingebettet Unternehmensführer Entscheidungen treffen. Welche Deutungsmuster zum Verhältnis unternehmerischen Handelns und nationalstaatlicher Loyalität haben sie ausgebildet? Inwiefern bildet der Gerechtigkeitsentwurf der politischen Gemeinschaft, in der sie Mitglied sind, eine maßgebliche Berechtigungsbasis für unternehmerisches Handeln? Prädestiniert sie die tagesgeschäftliche Konfrontation mit den Folgen ihrer Entscheidungen, die durch nationale Regulierungen nicht mehr genügend aufgefangen werden, zu einer prägnanten Krisenwahrnehmung? Könnten sie die klassischen Intellektuellen beerben?
Anhand einer feinanalytischen Rekonstruktion ausgewählter Interviewpassagen wird das Dilemma herausgearbeitet, in dem Unternehmensführer heute stehen. Dieses Dilemma resultiert aus dem Widerstreit zweier Handlungslogiken ? von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung ?, denen sie zugleich verpflichtet sind und deren Wirkkraft sie sich nicht entziehen können. Wie folgenreich dieser Widerstreit ist, wird en detail herauspräpariert. Dadurch ist ein präziserer Zugriff auf diejenigen Handlungsprobleme und Deutungsmuster möglich, die den Kern dessen ausmachen, was eher problemverschleiernd als »Globalisierung« bezeichnet wird.
Inhalt
Danksagung 9
Einleitung: Krisenbewußtsein, Krisendiskurse und unternehmerisches Handeln 11
Unternehmerisches Handeln: Mögliche Mißverständnisse 24
Auswahl, thematische Fokussierung, Erhebung und Analyse der Interviews 27
Unternehmerische Entscheidungsfindung zwischen Wertschöpfungsinteresse und »sozialer Verpflichtung« 31
Das Interview mit Herrn F.
Nationale Loyalität und internationale Unternehmen ? die Eingangsfrage 31
Nationalstaatliche Loyalität. »Alte Denke« oder Indiz für die Suche nach einer Legitimationsbasis? 35
Das »kapitalistische Zeitalter« ? von rücksichtsloser Ressourcenausbeutung zu wirtschaftlichem Wandel unter »Zustimmung der Beteiligten« 52
Unternehmerische Planung zwischen »betriebswirtschaftlicher« Strategie, optimaler Problemlösung und politischem Konsens 62
Sinnstiftende Herausforderung oder soziale Integration durch Disziplinierung. Zum Stellenwert von Erwerbsarbeit 71
Unternehmerisches Handeln in der Spannung von Wertschöpfungsinteresse und »sozialer Verpflichtung« 89
»So muß auch der Mensch entschädigt werden ...«.
Zur sozialen Verpflichtung des Unternehmers (1) 106
Ein Treuebündnis mit den Mitarbeitern als Reaktion auf die Austauschbarkeit des Personals. Zur sozialen Verpflichtung des Unternehmers (2) 115
Zusammenfassung 123
»Ein Unternehmen, das international tätig ist, muß sich auch international verhalten« 129
Das Interview mit Herrn G.
Die Eingangsfrage 129
Die Konstitution des »Marktes« durch die politische Gemeinschaft. G.s Schwierigkeit, unternehmerische und politische Zuständigkeit auseinanderzuhalten 133
Politische Problemlösungen in ihrer Bedeutung für unternehmerisches Handeln. Standortvorteile durch eine hohe Regulierungsdichte 147
Krisenbewältigender Pragmatismus und krisenbeschwörender Fundamentalismus. Der Widerstreit zwischen erfahrungsgesättigter Gewißheit und räsonierender Krisenartikulation 166
Erwerbsarbeit als soziale Absicherung (»Hängematte«) gegen Arbeitslosigkeit 175
Die Steuerungsinstrumente der »Sozialen Marktwirtschaft« als Standortvorteil 190
Zusammenfassung 195
»Ein Regelwerk, in dem der Weltmarkt spielt« 201
Das Interview mit Herrn H.
Der Unternehmer zwischen Nationalstaat und Weltmarkt 201
»Wir sind ein richtig deutsches Unternehmen«. Vergemeinschaftende Seßhaftigkeit und unternehmerische Ortlosigkeit 218
Die Substituierbarkeit menschlicher Arbeitskraft durch softwaregesteuerte Problemlösungen. Erwerbsarbeit und technologischer Fortschritt (1) 233
Arbeit ? überwindung der Widerständigkeit einer Sache oder »Beschäftigung«? Erwerbsarbeit und technologischer Fortschritt (2) 239
Bevormundung des Bürgers statt Beförderung seiner Autonomie. Erwerbsarbeit und technologischer Fortschritt (3) 250
Ehrenamtliches Engagement, Schlaraffenlandszenario und die »wertvolleren Menschen«. Erwerbsarbeit und technologischer Fortschritt (4) 257
Die Fürsorgepflicht des Staates angesichts stigmatisierender und deautonomisierender Konsequenzen der Arbeitslosigkeit 264
Zusammenfassung 272
Unternehmerische Entscheidungsfindung als affirmative Antwort auf politische Zielvorgaben 279
Das Interview mit Herrn K.
Die Entkopplung von Wertschöpfungssteigerung und Erwerbsarbeitsvolumen 279
Ein objektiver Konflikt, den K. nicht »empfindet«. Zur Inkommensurabilität politischen und unternehmerischen Handelns 285
Die »Herausforderung« des Unternehmers durch den Nationalstaat 297
»Da wir keine Hunde und Katzen beschäftigen ?«. Vermeintliche Wertschätzung und zweifelhafter Stellenwert menschlicher Arbeitskraft 303
Anerkennung, »Wertgefühl« und objektive Stigmatisierung 311
Anerkennung, »Wertgefühl« und leistungsethische Bewährung 323
Anerkennung, Autonomie und Eigenverantwortung des Bürgers 338
Zusammenfassung 352
Legitimationsstiftende Vergemeinschaftung und unternehmerische Vergesellschaftung 359
Literatur 377
Der Autor 382
Einleitung
Krisenbewußtsein, Krisendiskurse und unternehmerisches Handeln
Krisendiskurse sind immer Ausdruck eines Krisenbewußtseins und insofern Indikatoren dafür, daß die Geltung gesellschaftlicher Normen manifest in Frage gestellt wird. Die bloße Existenz der Diskurse läßt aber noch nicht erkennen, ob sie darauf zurückgehen, daß sie auf ein Problem antworten, welches zuvor noch nicht real bestanden hat, oder ob ein solches bisher nur nicht wahrgenommen und deswegen auch nicht zum Gegenstand eines Diskurses erhoben worden ist. Auch führen die Auseinandersetzungen nicht notwendig zu einer Schärfung des Krisenbewußtseins. Die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Krise und der Prägnanz ihrer Artikulation ist ein Maßstab dafür, ob ein öffentlicher Diskurs die Geltungskrise einer Norm zu erzeugen vermag oder sie vielmehr verschleiert. Wenn Krisenbewußtsein von daher immer die Möglichkeit des Emergierens von Neuem birgt, das an die Stelle bisher geltender Problemlösungen rückt, liegt es auch nahe, anzunehmen, daß es gesellschaftliche Strukturorte gibt, an denen die Entstehung des Neuen in gesteigertem Maße thematisch ist.
Im Titel der Arbeit ist nun schon herausgestellt, daß in der vorliegenden Untersuchung nicht die klassischen Orte, an denen ein Krisenbewußtsein gesucht werden könnte, betrachtet werden, also nicht den Protagonisten der Macht des Geistes wie Intellektuellen, Politikern und Wissenschaftlern Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zum Gegenstand der Untersuchung werden Unternehmensführer erhoben, die für die strategische Planung und Entscheidung eines Unternehmens verantwortlich sind. Nun könnte schon gegen die Annahme ein Einwand erhoben werden, das Krisenbewußtsein von Wirtschaftsführern habe etwas mit dem gemeinsam, das sich auf die Geltung der Normen einer politischen Vergemeinschaftung bezieht. Letzteres richtet seine Aufmerksamkeit doch auf Geltungskrisen von Normen oder auch darauf, wie diese sich vor dem Hintergrund eines politischen Gerechtigkeitsentwurfes zu den Krisen anderer Staaten verhalten. Unternehmer hingegen orientieren sich daran, was zur Erhaltung ihres Unternehmens erforderlich ist, und richten ihre Aufmerksamkeit demnach vorrangig auf die Krisen, in die das Unternehmen geraten ist. Mit der politischen Vergemeinschaftung, in der sie agieren, steht diese Interessenlage nur mittelbar in Verbindung. Eine derart reduzierte Auffassung ist insofern schon verkürzt, als sie vernachlässigt, daß die Innovationsverpflichtung des Unternehmers in sich einen Bezug zum Allgemeinen hat, denn Waren und Dienstleistungen stellen ? in wie reduzierter Form auch immer ? Antworten auf Handlungsprobleme dar und stehen in dieser Hinsicht im Dienst der Praxis. Aus diesem Grund könnten Wirtschaftsgüter generell als Dienstleistungen bezeichnet werden, betrachtet man ihren Stellenwert für die Autonomie der Lebenspraxis vor diesem Hintergrund. [1] Gerade dieser dem unternehmerischen Handeln immanente Bezug zur Struktur der Lebenspraxis veranlaßt mich, in dieser Untersuchung meine Aufmerksamkeit auf das Krisenbewußtsein von Unternehmensführern zu richten.
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