Strukturprobleme supervisorischer Praxis
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Strukturprobleme supervisorischer Praxis (Buch)

Ulrich Oevermann
Strukturprobleme supervisorischer Praxis
Eine objektiv hermeneutische Sequenzanalyse zur Überprüfung der Professionalisierungstheorie

Forschungsbeiträge aus der Objektiven Hermeneutik
Band 2
Herausgegeben von Ulrich Oevermann, Roland Burkholz und Christel Gärtner

3. Auflage
Frankfurt am Main 2010
314 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-934157-21-7

Buch 29,80 Euro
E-Book (PDF) 19,80 Euro
29,80 €
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Inhalt

Editorische Vorbemerkung  7
Vorbemerkung zum erkenntnisstrategischen Stellenwert der Untersuchung  9
Einleitung  21

Teil A
Zur Methode der Untersuchung:
Die Verfahren der objektiven Hermeneutik  27

Teil B
Die Sequenzanalyse des Transkripts der Supervisions-Sitzung  43
I. Vorbemerkung zur Verwendung des Wissens über den äußeren Kontext  43
II. Detaillierte, lückenlose Sequenzanalyse der initialen Interaktionssequenz  45
III. Verdichtende Interpretation der weiteren Äußerungsfolge  125
IV. Detaillierte Sequenzanalyse der konfliktuösen Abschlußphase  195

Teil C
Zusammenfassung der Ergebnisse und professionalisierungstheoretische Schlußbemerkungen  229
I. Das Ablaufschema der gesamten Sitzung  229
II. Zusammenfassung der Befunde  245
III. Zur professionalisierungstheoretischen Interpretation der Befunde und Explikation des in dieser Supervision zutage tretenden Strukturproblems  257
IV. Die Strukturlogik und -dynamik eines professionalisierten Arbeitsbündnisses aus professionalisierungstheoretischer Sicht. Eine soziologische Erklärung der Komplementarität von Übertragung und Gegenübertragung  259
V. Einige professionalisierungstheoretische Schlußfolgerungen über Gemeinsamkeiten und Differenzen des Arbeitsbündnisses in Therapie, Supervision und Beratung  268
VI. Der Stellenwert der objektiven Hermeneutik für die klinische Praxis  276

Transkript  283

Editorische Vorbemerkung [1]

In die einleitende Begründung dieser Schrift gehört eine kurze Bemerkung, warum eine Analyse, die schon vor zehn Jahren – 1991 – in einem ersten Durchgang abgeschlossen wurde und von der Teile schon früher veröffentlicht wurden [2], jetzt erst – bzw. noch – in einer nochmaligen, durchgreifenden Überarbeitung als Monographie veröffentlicht wird. Der wichtigste Grund ist darin zu sehen, daß die Analyse von Anbeginn als eine vollständige Sequenzanalyse des kompletten Sitzungsprotokolls angelegt und durchgeführt war, aber naturgemäß in dem Sammelband, der die aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen angestellten Betrachtungen desselben Forschungsmaterials zusammenfaßte [3], nur unvollständig publiziert werden konnte. Daher habe ich mit der Begründung der »Forschungsbeiträge aus der Objektiven Hermeneutik« dankbar die sich mit dieser Reihe bietende Gelegenheit ergriffen, die vollständige Analyse in einer ungekürzten und nochmals überarbeiteten sowie um wesentliche Teile ergänzten Fassung veröffentlichen zu können. Nicht nur wird hier zum ersten Mal der zweite Teil der Sequenzanalyse publiziert, der die Analyse des für den Gesamtverlauf der Supervision zentralen Abschlusses enthält. Auch der erste Teil wird in einer ausführlichen, gegenüber der bisher publizierten Fassung erheblich erweiterten Version vorgelegt. Darin sind überdies die schon veröffentlichten Textteile noch einmal überarbeitet worden. Auch der Teil C mit den Schlußbemerkungen ist in der hier vorgelegten Fassung vollständig erneuert und um wesentliche Teile erweitert worden: um die Analyse der Segmentierung des Gesamtablaufs der Supervision, die nun als Zusammenschau vom eiligen Leser auch vorweg zur Kenntnis genommen werden kann; um die Zusammenfassung der wesentlichen Befunde und deren professionalisierungstheoretische Einordnung und um eine professionalisierungstheoretische Analyse der Strukturlogik und -dynamik des Arbeitsbündnisses, der darin eingebetteten Komplementarität von Übertragung und Gegenübertragung sowie schließlich eine Analyse der Gemeinsamkeiten und Differenzen von Therapie, Beratung, Supervision und Gruppendynamik. Die Einleitung in die methodischen Grundlagen der Untersuchung ist aus dem Anhang wieder herausgenommen und wie ursprünglich vorgesehen dem Haupttext vorangestellt worden. Daß im Anhang das vollständige Transkript noch einmal – nunmehr zum dritten Male – abgedruckt werden muß, ergibt sich aus der Notwendigkeit, dem Leser zu Zwecken der intersubjektiven Überprüfbarkeit das Analysematerial im selben Band zur Verfügung zu stellen.

[1] Diese Publikation wurde erst möglich im Rahmen des von der DFG geförderten Teilprojektes »Struktur und Genese professionalisierter Praxis als gesellschaftlichen Ortes stellvertretender Krisenbewältigung« innerhalb des SFB/FK 435 »Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel« an der Universität Frankfurt am Main. Sie ist Teil der Projektarbeit im Förderungszeitraum vom 1. 1. 1999 bis 31. 12. 2001.

[2] Vgl. U. Oevermann, »Struktureigenschaften supervisorischer Praxis – Exemplarische Sequenzanalyse des Sitzungsprotokolls der Supervision eines psychoanalytisch orientierten Therapie-Teams im Methodenmodell der objektiven Hermeneutik« und ders., »Verbatim-Transkript einer Teamsupervision«, in: B. Bardé und D. Mattke (Hrsg.), Therapeutische Teams. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, S. 141–269 und S. 109–140.

[3] Es gab noch einen zweiten Sammelband (M. Buchholz und N. Hartkamp (Hrsg.), Supervision im Fokus. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997), der die Ausführungen zusammenfaßte, die auf einer von M. Buchholz in Tiefenbrunn (Göttingen) organisierten Konferenz zu dem Sitzungsprotokoll vorgetragen wurden, nachdem jener erste Band schon veröffentlicht war. Es wurde in diesem letzteren Band das von mir angefertigte Transkript als Gegenstand der weiteren Forschung noch einmal abgedruckt (S. 5–39), so daß dem Leser eine umfassende Durchleuchtung dieses Forschungsmaterials zu einem Vergleich zur Verfügung steht, der vor allem die Zugriffsweise und Aussagekraft verschiedener Methoden beleuchtet.


Einleitung

Die nachfolgende Untersuchung fordert dem Leser viel Geduld und wohlwollende Konzentration ab, weil sie ihn einerseits aus dem gewohnten methodischen Denken herausführen muß, um die Sache selbst zum Sprechen bringen zu können, die andererseits schließlich in dem, was erst soziologische Strukturanalyse als Wissenschaft ausmacht: Explikation eines intuitiv-praktisch gestaltrichtig oder gestaltverzerrt erfaßbaren Handlungsablaufs, hier in einer verwirrenden Komplexion sich darbietet, aus der es gleichwohl die sich immer wieder gleichförmig reproduzierenden Sequenzmuster herauszulösen gilt.

Gegenstand der Untersuchung ist die vom Autor verschriftete, vom Leser im Anhang des Bandes vollständig nachlesbare Tonband-Protokollierung der Supervision eines psychoanalytisch orientiert arbeitenden Teams von Therapeuten und Pflegern einer Station für psychosomatische Krankheiten. Der Gegenstand der Supervision besteht in Problemen der Beendigung der Behandlung einer Colitis-Patientin.

Die Sequenzanalyse dieser Supervision kommt der Sache nach einerseits deren Evaluation unter selektiven Gesichtspunkten gleich, obwohl sie andererseits von einem Soziologen durchgeführt wurde, der bezüglich der zu supervidierenden Praxis wie der Praxis der Supervision als Laie und nicht als Professionsangehöriger zu gelten hat. Diese Kombination rechtfertigt sich mithin ausschließlich im Hinblick auf die methodische Vorgehensweise im Modell einer lückenlosen Explikation, ohne daß Erkenntnisse aus der berufserfahrenen Praxis leitend, korrigierend oder abkürzend hinzutreten können. Dieser für die Praxis sicherlich Nachteile mit sich bringende Umstand kann aber in methodischer Hinsicht auch Vorteile bieten, weil er zur Umgehung eingeschliffener Operationen der Ergebnis- und Evidenzsicherung zwingt und deshalb eine gründlichere Überprüfung der Praxis in größerer Distanz und künstlicher Naivetät ermöglicht. Dadurch wird nicht nur die konkrete Supervision evaluiert, gewissermaßen »methodisch-unpraktisch supervidiert«, was auch nicht den Aufwand der Publikation, wenn überhaupt den Aufwand der vollständigen Sequenzanalyse mit allem, was daran an Belastungen hängt, rechtfertigte. Wichtiger ist vielmehr, daß exemplarisch an diesem konkreten Fall durchführbar wird, was ohnehin letztlich verläßlich nur auf der Grundlage konkreter Fallrekonstruktionen möglich ist: die Überprüfung einer spezifischen Supervisions-Praxis und daran von Supervision überhaupt mit ihren besonderen und allgemeinen Strukturproblemen und -eigenschaften. Das ist hier um so einträglicher, als sich die hier untersuchte Supervision m.E. auf ein mutiges und medizinisch äußerst belangvolles Versuchsmodell bezieht, das auf Neuland vorstößt, so daß allein von daher der Erkenntniswert einer begleitenden Sequenzanalyse gewährleistet zu sein scheint. Indem die an der Supervision Beteiligten ihre Praxis als Gegenstand einer Sequenzanalyse zur Verfügung stellen, vollziehen sie neben ihrer Berufspraxis für die wissenschaftliche Forschung eine zweite Pionierleistung.

Dem Leser eröffnet sich dabei der unschätzbare Vorteil, sowohl die Praxis wie die Sequenzanalyse anhand des verschrifteten Protokolls lückenlos verfolgen zu können. Er erhält somit eine optimale Voraussetzung für die Überprüfung sowohl der supervidierten Praxis als auch der Supervision dieser Praxis und schließlich der Methode der sequenzanalytischen Rekonstruktion der Supervision, also für die Überprüfung aufeinander kaskadenartig bezogener wissenschaftlicher Operationen. Damit ist ein Höchstmaß an Voraussetzungen für eine wirklich fallibilistische Zugangsweise eröffnet ? und das ironischerweise auf einem methodischen und praktischen Felde, dem im Betrieb von »normal science« gewöhnlich mit dem Vorwurf der Beliebigkeit und »Weichheit« begegnet wird. Aber die intersubjektive, auf Falsifikation systematisch angelegte Nachprüfbarkeit ist nicht nur in ungewöhnlicher Weise gesichert, weil einerseits das Datenmaterial unverkürzt berichtet wird und andererseits darüber hinaus von vornherein der Untersuchungsgegenstand durch ein Verbatim-Protokoll, ein sogenanntes »natürliches Protokoll« des realen Ereignisablaufs, eine optimale Chance erhält, sich gegen theoretische Vorurteile und Konjekturen durchsetzen zu können, sondern vor allem deshalb, weil die Methode der Sequenzanalyse in sich die Permanenz der Falsifikation riskanter Strukturhypothesen an einem tatsächlich vollständig von diesen Hypothesen unabhängigen Datenmaterial darstellt. Die Sequenzanalyse, wie sie hier Verwendung findet, ist in meinen Augen in den Sozialwissenschaften dasjenige Vorgehen, das dem Ideal des Popperschen  Fallibilismus am nächsten kommt. Das liegt ganz einfach daran, daß es lückenlos den tatsächlichen Verlauf einer Lebenspraxis rekonstruiert, die in ihrem Vollzug selbst nichts anderes ist als das zukunftsoffene fallibilistische Überprüfen von Routinen und Überzeugungen.

Demgegenüber kommt es einem schlechten Witz gleich, wenn diejenigen sich auf sogenannte »exakte Methoden« des standardisierten Messens berufenden vorgeblichen Popperianer, die zugleich die an die Sache selbst sich anschmiegenden rekonstruktionslogischen Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik als weich, weil »hermeneutisch«, »qualitativ« oder »interpretativ« glauben desavouieren zu müssen oder allenfalls gönnerhaft im explorativen Vorzimmer zur Direktion der exakten Wissenschaft zulassen zu können, in ihren eigenen Forschungen vorgeben, das Falsifikations-Modell, das sie als Ideal programmatisch hochhalten, durch scheinexakte Subsumtion operationaler Indikatoren unter klassifikatorische Begriffe von zu überprüfenden Hypothesen zu erfüllen. In Wirklichkeit haben sie genau durch das, was ihnen Gewähr für Exaktheit und Falsifizierbarkeit bietet: die Subsumtion von in Standardoperationen hergestellten Daten unter operationalisierte Begriffe, der Realität als einzig unabhängiger Überprüfungsinstanz die Zähne der falsifizierenden Kraft gezogen. Denn die Operationalisierung theoretischer Begriffe im subsumtionslogischen Vorgehen, dem das rekonstruktionslogische der objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse scharf gegenübersteht, bringt es zwingend mit sich, daß die immer schon sinnstrukturiert konstituierte Gegenstandswelt der Sozialwissenschaften in jener Begrifflichkeit operationalisierend abgefiltert worden ist, in der zugleich auch die Hypothesen formuliert worden sind, die es zu überprüfen gilt. So erhält man in einem schlechten Zirkel am Ende tatsächlich nur das, was man am Anfang schon hineingesteckt hat.

Die nachfolgende Untersuchung wendet sich aber nicht primär an den methodologisch oder wissenschaftstheoretisch interessierten Leser, sondern an den Praktiker der therapeutischen und supervisorischen Intervention. Es kommt ihr deshalb auch nicht primär darauf an, das immer noch im Wissenschaftsbetrieb randständige Modell der objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse ein weiteres Mal an einem konkreten Gegenstand zu erproben oder zu demonstrieren, sondern sie soll vielmehr, indem sie sich auf den vorgegebenen Gegenstand möglichst unvoreingenommen einläßt und ihn möglichst in seiner Gesamtheit auszuschöpfen trachtet, dem Praktiker einen methodisch veränderten Einblick in seine Praxis bieten und damit helfen, die möglicherweise unexplizierten Voraussetzungen oder ausgeblendeten Strukturzusammenhänge seines Berufsfeldes, ins Licht der Explizitheit begrifflicher Erkenntnis zu rücken.

Dieses Ziel allerdings ließ sich hier von vornherein nur mit gewissen Abstrichen anvisieren. Die Darstellung einer integralen Sequenzanalyse des gesamten Supervisions-Protokolls in maximaler Detailliertheit hätte den Rahmen jeglicher Publikationsform gesprengt. Allerdings wurde sie faktisch vollständig durchgeführt. Man muß aber zwischen Durchführung und Darstellung unterscheiden. Zwar nützt hinsichtlich des Verfahrens der objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse eine summarische Darstellung des bloßen Ergebnisses wenig, weil die Beweisführung der Erschließung dann naturgemäß fehlen muß, und erst die lückenlose Erschließung, wie sie die Sequenzanalyse liefert, dem Ergebnis bzw. der Identifikation des Sachverhalts sowohl einen wissenschaftlich gesicherten Stellenwert gibt als auch die bloße Deskription in eine theoretische Modellbildung transformiert. Aber dennoch kann die Darstellung den tatsächlichen Gang der sequenzanalytischen Erschließung verdichtend und zuweilen auch summarisch wiedergeben, weil die erschlossene Fallstruktur sich sehr bald in einem laufenden Protokoll erkennbar reproduziert und dann nur noch auf die Veränderungen und Modifikationen sowie auf den konkreten thematischen Verlauf geachtet werden muß. Im Konflikt zwischen Lückenlosigkeit der Analyse und gleichmäßiger Gewichtung des gesamten Protokolls angesichts einer unübersteigbaren Begrenzung des Publikationsraumes ist die Entscheidung für die objektive Hermeneutik vorgegeben: Zumindest die Sequenzanalyse des Anfangs und des Endes des Ablaufs der Supervision sollen lückenlos dargestellt werden. Der übrige Raum muß dann für eine verdichtende Raffung des sequenzanalytisch Erschlossenen sowie für eine summarische Paraphrase des Geschehens zwischen dem Anfang und dem Abschluß und für die selektive Herausarbeitung einiger zentraler, auffälliger Weichenstellungen im sequentiellen Verlauf sowie die Fixierung theoretisch interessanter Einzelerkenntnisse reichen. Diese Selektivität wird nicht völlig frei von Willkür sein, und entspricht nicht völlig dem objektiv hermeneutischen Ideal einer lückenlosen Beweisführung. Der Leser wird also vor allem in dieser Hinsicht um Nachsicht gebeten.

Da einerseits die Demonstration der Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik nicht im Vordergrund steht, andererseits aber deren theoretische Begründetheit vorausgesetzt werden muß, was bei dem Leser, an den sich die Untersuchung vor allem wendet, nicht legitim ist, sollen wenigstens die wichtigsten Ziele, Konzepte und Annahmen der objektiven Hermeneutik in einem vorangestellten Teil erläutert werden.