• PDF
Die Wiedergewinnung des Politischen
  • Die Wiedergewinnung des Politischen

Die Wiedergewinnung des Politischen

Günter Magiera
Die Wiedergewinnung des Politischen
Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger

412 Seiten, broschiert
Frankfurt am Main 2007
ISBN 978-3-934157-51-4

Buch 34,00 Euro (vergriffen)
E-Book (PDF) 23,80 Euro

23,80 €
Bruttopreis
Menge

Hannah Arendt konstatiert »fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken«, die bis in die Neuzeit reichen und auf Platon zürückgehen. Sie will mit einer philosophisch-metaphysischen Tradition brechen, in der sich alle Politik dem Wahrheitsanspruch der Philosophie unterordnete. Mit ihrer Kritik fordert sie daher im Politischen ein anderes Denken und Sprechen als in der Philosophie. Aber diese Abweisung der Philosophie ist nicht identisch mit dem Ausschluß der »Wahrheit« aus dem politischen Geschehen. Dabei geht es ihr um die Formulierung eines politischen Wahrheitsbegriffes, nämlich um die »Wahrheit einer Tatsache«, die die platonische Suche nach einer verbindlichen, unveränderlichen Wahrheit ersetzen soll. Tatsachen werden erst in der Pluralität der Wahrnehmung kommunizierender Menschen sichtbar und auf dem Weg über die kontingente, weil strittige Urteilsbildung zum Gegenstand von Meinungen. Die Meinung hat ihre Basis in der unhintergehbaren Tatsache und wird damit wahrheitsfähig. Was bei Platon als doxa abgewertet wurde, wird bei Arendt in vollem Umfang rehabilitiert. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung bezieht sich Hannah Arendt vornehmlich auf Platon und Heidegger. Dem einen, Platon, kommt die Rolle des Widerparts zu, während der andere, Heidegger, als Stichwortgeber für den neuen Zugang zum Wahrheitsproblem figuriert. Diese Untersuchung will aus diesem Segment im Denken Arendts jenen Zusammenhang von Wahrheit und Politik aufweisen, der für Arendt die Voraussetzung alles Politischen ist: »Der Sinn von Politik ist Freiheit.«

Hannah Arendt vertritt die These, daß die Wirkungen der politischen Philosophie Platons bis in die Neuzeit angehalten und verheerende Folgen für das Politische gezeitigt haben, ohne das sie diese Wirkungen einer besonderen Absicht Platons zuschreibt. Sie will der Politik die von Platon oktroyierte philosophische Begrifflichkeit nehmen und sie durch eine der Politik angemessene Sprache ersetzen. Damit soll der Politik ihre Eigenständigkeit zurückgegeben werden. Im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung mit Platon stehen die Begriffe Wahrheit, Gerechtigkeit und Herrschaft, wobei sie sich mit den Gedanken ihres Lehrers Heidegger zu diesem Thema auseinandersetzt. Arendts entscheidendes Anliegen gegenüber der abendländischen Tradition politischen Denkens ist die Rehabilitierung der Meinung. Die Abwertung der Meinung durch Platon zu bloßem Gerede ist eine folgenschwere Erbschaft der Antike, denn Arendt betrachtet die Meinung als eine wesentliche Grundlage aller politischen Äußerungen und Handlungen der Menschen und als Ausdruck ihrer Pluralität. Ihre Basis findet die Meinung in der Tatsache, damit ist sie wahrheitsfähig. Arendt greift bei der Bestimmung ihres Wahrheitsbegriffes auf Leibniz und Heidegger zurück. Hat ein Ereignis stattgefunden, ist es eine Tatsache, ihre sprachliche Feststellung ist als Bezeichnung eines bestehenden Sachverhalts eine Tatsa-chenwahrheit und als solche zugleich unabänderbar. Gewißheit über das Wahrgenommene können die Menschen allerdings nur dem Umstand entnehmen, daß es auch anderen so erscheint, also über die Pluralität ihrer Wahrnehmung. Über das einer Tatsache zukom-mende Urteil und die Folgerungen daraus, die unterschiedlich ausfallen und in großer Vielfalt zum Ausdruck gebracht werden, kann gestritten werden. Jedes Urteil ist partikular, es zeigt jeweils nur einen Aspekt, abhängig von den jeweiligen Perspektiven und Standorten der Urteilenden. Jede Leugnung oder Verfälschung einer Tatsache aber wäre Lüge, und ohne die Basis der Tatsachenwahrheit ist die Meinung bloße Spekulation. Die der Meinung innewohnende Kontingenz bezieht sich auf die Wertungen dieser Tatsache. Arendt hat der metaphysischen Wahrheit Platons, die gesucht werden muß, weil sie unver-änderlich immer schon vorhanden sein soll, aber nur von wenigen gefunden werden kann, jene Wahrheit entgegengesetzt, die es nicht gibt, bevor sie sich ereignet hat. Sie hat der Meinung ihre unverrückbare Basis zurückgegeben und sie rehabilitiert. Im Rückgriff auf Sokrates und Kant setzt sie bei der so gewonnenen Meinung kritisches Denken und Urteilskraft voraus, damit die Meinung neben der Tatsache um das Urteil vervollständigt werden kann.


Inhalt

Einleitung 9
1. Wahrheit, Gerechtigkeit, Herrschaft: die Hierarchie der Begriffe bei Platon und Arendt 9
2. Die Unhintergehbarkeit der Tatsache und die Endlichkeit des Urteils 13
3. Die Krise der Polis 16
4. Die Umdeutung des Wahrheitsbegriffes 20
5. Der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Herrschaft 23
6. Das Verhältnis von Philosophie und Politik: Über eine neue Art zu denken 26

I Die Krise der Polis und die Reaktion Platons 45

1. Die Polis des Gesetzgebers 45
1.1. Der Nomos als »ungeschriebenes Gottgebot« und als »Gesetz des Menschen« 48
2. Platons Verhältnis zur athenischen Demokratie als Grund­-lage seiner politischen Philosophie. Der Siebente Brief 50
2.1. Platons Kritik an Polis und Demokratie 53
2.1.1 Das Schiffsgleichnis als Ausdruck der Kritik an der Demokratie 54
2.1.2. »Demokratie ist Kampf um Herrschaft und Besitz« 55
2.1.3. Die Polis der Philosophen. Erste Gedanken über den idealen Staat 56
3. Akademie oder Agora? Die Entscheidung Platons 58
4. Agora oder Akademie? Die Entscheidung des Sokrates 59
5. Die Vorurteile der Bürger gegenüber den Philosophen 62

II. Über die Wahrheit 65

1. Arendts Suche nach einem Wahrheitsbegriff in der Politik 65
2. Die Diktatur der metaphysischen Wahrheit Platons 69
3. Die Wahrheit als Differenz zwischen Unverborgenheit und Verborgenheit: das Entber-gen 72
4. Die vier Stadien des Menschseins im Höhlengleichnis 75
4.1. Erstes Stadium: Der Blick auf die Schatten 76
4.2. Zweites Stadium: Die gewaltsame Befreiung aus der Einsichtslosigkeit. 77
4.3. Drittes Stadium: Der Weg zum »Licht« und der Blick in die »Sonne« 80
4.4. Viertes Stadium: Paideia. Die Rückkehr des Philosophen in das Dunkel der Höhle 83
5. Die Platonische Ideenlehre als Voraussetzung metaphysischer Wahrheit. Das Eine und die unbestimmte Zweiheit 85
5.1. Das Seiende als Prinzip der Vielheit 87
5.2. Die Idee als Voraussetzung zur Erschließung der Phänomene 88
6. Fünftes Stadium: Die Idee des Guten 90
6.1. Die Idee des Guten als Ermächtigung des Seins 92
6.2. Die »Nichtsagbarkeit« der Idee des Guten 95
7. Die Ideenlehre als Vorbereitung der universalen Technisierung 104
7.1. »Das Richtige ist noch nicht das Wahre« 106
7.2. Kritik am Begriff der Wahrheit als Unverborgenheit 107
7.3. Sein und Erscheinen sind dasselbe 117
7.3.1. Die Frage nach dem Sinn von Sein 119
7.3.2. Das Unvorstellbare: das All 123
7.3.3. In-der-Welt-sein und Weltlichkeit 129
7.4. Technik und Politik 133
8. Wahrheit als Tatsache: Zeitlichkeit und Endlichkeit im Urteil 138
8.1. Das Problem der Tatsachenfeststellung 149

III. Von der Gerechtigkeit 157

1. Gerechtigkeit als politisches Phänomen 157
2. Wahrheit oder Gerechtigkeit? 161
3. Das Primat der Gerechtigkeit im Staat und die Folgen 167
4. Die Korrumpierung des Politischen durch die Lüge 170
5. Die Religion der Griechen und Platons Mythen 180
6. Platons Verhältnis zu Macht, Gewalt und Krieg 182
7. Gewalt in der Außenpolitik der Polis 186
8. Macht und Gewalt 190
9. Die Zusammenführung von Wahrheit und Politik durch die Tatsachenwahrheit 193

IV. Von der Herrschaft 197

1. Herrschaft und Politik 197
2. Philosophische Begrifflichkeit in der Politik 199
3. Die Fragwürdigkeit der abendländischen Tradition politischen Denkens 200
4. Der Herrschaftsbegriff bei Platon: die Herrschaft im Oikos und in der Tyrannis 202
5. Die Trennung von Wissen und Tun 206
6. Die Umdeutung des Verhältnisses von Oikos und Polis 212
7. Politik und Ökonomie 213
8. Herrschaft als Schlüsselbegriff der politischen Theorie oder Freiheit als Sinn von Politik? 217

V. Von der politischen Meinung 221

1. Meinung und Wahrheit 221
2. Die Abwertung der Meinung als Folge der Unterordnung der Politik unter die Philoso-phie 224
3. Das Wahrheitsprivileg der Philosophen: die Provokation Platons 228
4. Die Welt der Einheit und die der unbestimmten Zweiheit 233
4.1. Begründetes Wissen und richtige Meinung 234
4.2. Die Dichotomie zwischen wahrem Sein und bloßer Erscheinug 236
4.3. Metaphysik als Voraussetzung des Politischen 239
5. Die doxa als ein Grundbegriff der aristotelischen Philosophie 242
6. Die Rehablitierung der Meinung: Erfahrung, Wirklichkeit und Meinung 247
7. Meinung und Denken 252
8. Meinung und Urteil 254
9. Die Meinung als Grundlage politischen Handelns 256
10. Wahrheit als vermeintlicher Widerspruch zur Meinung 258
10.1. Die phänomenologische Methode bei Arendt 259
10.2. Sprache und Verstehen 262
10.3. Heideggers drei Wege aus dem Lehrgedicht des Parmenides 268
10.4. Schein und Vorurteil 272
10.5. Schein und Erscheinung 276
11. Tatsachenwahrheit als Voraussetzung der Meinung 278
12. Einverständnis ohne Übereinstimmung 281
13. Die Bedeutung der Wahrheit für das Politische 285

VI. Über das Denken: das kritische Denken 289

1. Kritisches Denken ist erlernbar 289
2. Denken und Begriff 290
3. Die Platonische »Umkehrung« 294
4. Sokrates: die Kunst des Fragens und Erfragens 297
5. Der »Zugwind des immerwährenden Denkens« 305
6. Arendts Thesen zur kritischen Denkart 308
6.1. Staunen führt zum Denken 310
7. Kants Maßstäbe kritischen Denkens 311
7.1. Selbstdenken 311
7.2. An der Stelle jedes anderen denken 313
7.3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken 314
8. Die Bedeutung der »erweiterten Denkungsart« 316
8.1. Meinungsfreiheit und öffentlicher Raum 318
8.2. Der öffentliche Raum als die Voraussetzung des Politischen 319
8.3. Das Private und das Öffentliche 324
8.4. Vernunft und kritisches Denken 328
8.5. Handeln und Freisein 329
8.6. Der Begriff des Politischen 334
8.7. Kritisches Denken: Was tun wir, wenn wir denken? 338

VII. Über Politik und das Politische. Die Möglichkeit der Wiedergewinnung des Politischen durch Denken, Urteilen und Handeln 345

1. Die Bedeutung der Wahrheit in der Politik 345
2. Die Bedeutung der Gerechtigkeit 350
3. Die Bedeutung der Herrschaft. Platons Definition der Politik durch den Herrschaftsbegriff 352
4. Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie 355
5. Die Bedeutung der Meinung. Von Sokrates zu Kant: Von der dualen Methode des sokratischen Dialogs zur pluralen Methode politischen Denkens 356
5.1. Der Weg zum Denken: der Sokratische Dialog 356
5.2. Der Weg zum Urteilen: Die erweiterte Denkungsart Kants 358
6. Moral und erweiterte Denkungsart 364
7. Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit: Die Einstimmigkeit mit sich selbst 372
8. Der Weg zum Handeln: Gibt es die Möglichkeit einer politischen Philosophie? 374

VIII. Schlußbemerkungen 379
Vom Leben des Geistes: das Denken 379

Danksagung 386
Literaturverzeichnis 387