

Thomas Schwinn
Differenzierung und soziale Ungleichheit
Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung
436 Seiten, broschiert
Frankfurt am Main 2004
ISBN 978-3-934157-15-6
4. Auflage 2011
Buch 34,80 Euro
E-Book (PDF) 23,80 Euro
Soziale Ungleichheit habe heute ihre zentrale strukturelle Bedeutung verloren; moderne Gesellschaften seien durch einen Primat funktionaler Differenzierung gekennzeichnet und in Abhängigkeit davon rücke soziale Ungleichheit in den Hintergrund. Mit wenigen Ausnahmen hat diese provokative Behauptung Niklas Luhmanns auf Seiten der Ungleichheitsforscher keine Reaktionen hervorgerufen. Das ist symptomatisch für das wechselseitige Nichtwahrnehmen der beiden soziologischen Traditionen.
Die Differenzierung von Menschen nach Kriterien sozialer Ungleichheit und die Differenzierung von Ordnungen oder Teilsystemen nach bestimmten Leitkriterien sind die beiden wichtigsten theoretischen Konzepte, die die Soziologie für eine möglichst umfassende Analyse moderner Gesellschaften anzubieten hat. Beide Forschungstraditionen laufen jedoch relativ beziehungslos nebeneinander her. Differenzierungstheorien blenden das Ungleichheitsproblem als zweitrangig aus ihrer Aufmerksamkeit aus. Andererseits sind in Ungleichheitsanalysen die differenzierten Ordnungen allenfalls die Orte, an denen sich bestimmte Ausprägungen gesellschaftlicher Ungleichheit manifestieren, für die Differenzierungsprozesse selbst besteht jedoch kein Interesse.
Auch auf Seiten der Ungleichheitstheorie finden sich Primatansprüche: soziale Ungleichheit sei die »dominante Hauptachse« moderner Gesellschaften, ein »gesellschaftstheoretisches Schlüsselthema«, und die sich daran entzündenden Konflikte und Grenzziehungen seien schärfer umkämpft als die aus der funktionalen Differenzierung resultierenden. Angesichts dieser widersprüchlichen Behauptungen ist ein dringender Klärungsbedarf vorhanden. Sieht man von dem Intermezzo der Diskussion um die funktionalistische Schichtungstheorie in den vierziger bis sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ab, entwickeln beide Forschungstraditionen ihre Themen und Fragestellungen weitgehend unabhängig voneinander, und man gewinnt den Eindruck, es werden jeweils zwei verschiedene Gesellschaften beschrieben. Das ist ein unbefriedigender Zustand. Die beiden makrosoziologischen Hauptkonzepte können nicht isoliert voneinander zufriedenstellend entwickelt werden.
Was kann man von einer Verknüpfung der beiden Traditionsstränge der Soziologie erwarten? Der heutigen sehr stark empirisch ausgerichteten Ungleichheitsforschung kann sie helfen, wieder stärker Anschluss an theoretische Fragestellungen zu gewinnen; und der Differenzierungstheorie, die eine Tendenz zur Verkapselung in der Hermetik ihrer Gedankengebäude hat, vermag der Kontakt mit den Ergebnissen der Ungleichheitsforschung eine stärkere Bodenhaftung zu verschaffen. Die These eines Struktur- und damit eines Theorieprimats lässt sich nicht bestätigen. Die Beiträge machen vor allem deutlich, dass die zentralen soziologischen Problemfelder sich nur mittels einer Kombination von Differenzierungs- und Ungleichheitsanalyse erfassen lassen: Formen der Exklusion und Inklusion; die Geschlechter- und die ethnische Problematik; Ungleichheiten in Interaktionen, Organisationen, dem Arbeitsmarkt und in dem unter Erosionstendenzen leidenden Nationalstaat; Dynamik und Wachstum der Teilsysteme und daraus resultierende Folgeprobleme.
Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren auf vielfältige Weise, dass man dank einer Kombination der beiden Soziologien mehr sehen und erklären und weiter blicken kann als die einzelne Tradition, die nur über eine Perspektive verfügt.
Inhalt
Einleitung und Überblick
Thomas Schwinn
Institutionelle Differenzierung und soziale Ungleichheit.
Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung 9
Stände, Klassen, Ordnungen: die historische Perspektive
Thomas Schwinn
Ständische Verhältnisse und Ordnungsbildung
vom Mittelalter bis in die Neuzeit 71
Konflikt- und Schließungsprozesse
Hans-Joachim Giegel
Gleichheit und Ungleichheit in funktional differenzierten Gesellschaften 105
Michael Vester
Die Gesellschaft als mehrdimensionales Kräftefeld 131
Martin Groß und Bernd Wegener
Institutionen, Schließung und soziale Ungleichheit 173
Inklusion und Exklusion
Nicole Burzan und Uwe Schimank
Inklusionsprofile ? Überlegungen zu einer differenzierungstheoretischen »Sozialstrukturanalyse« 209
Lutz Leisering
Desillusionierungen des modernen Fortschrittsglaubens.
»Soziale Exklusion« als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept 238
Akteur- und systemtheoretische Vermittlungen
Hartmut Esser
Akteure und soziale Systeme 271
Gerd Nollmann und Hermann Strasser
Soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Differenzierung.
Handlungstheoretische Grundlagen von scheinbar unverträglichen Konzepten 284
Systemtheoretische Zugänge
Armin Nassehi
Inklusion, Exklusion, Ungleichheit.
Eine kleine theoretische Skizze 323
Rudolf Stichweh
Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung.
Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion 353
Die Ungleichheit der Geschlechter und der Ethnien
Nina Degele
Differenzierung und Ungleichheit.
Eine geschlechtertheoretische Perspektive 371
Michael Bommes
Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft.
Erläutert am Beispiel ?ethnischer Ungleichheit? von Arbeitsmigranten 399
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 429
Pressestimmen
Dieser Titel wurde in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie von Prof. Dr. Martin Abraham, Bern, besprochen (KZfSS, 57, 2005: 735-737). Die Rezension ist leider nicht online zugänglich.