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Max Webers Religionssoziologie
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Max Webers Religionssoziologie (PDF)

Gerhard Preyer
Max Webers Religionssoziologie
Eine Neubewertung

152 Seiten
Frankfurt am Main 2010
ISBN 978-3-941743-06-9

Buch 19,80 Euro
E-Book (PDF) 13,80 Euro

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Max Webers Religionssoziologie als eine Typologie und Soziologie des Rationalismus ist von Interesse geblieben, da in ihr nicht nur Einsichten in die Entstehung der Teilordnungen des modernen Gesellschaftssystems, sondern auch in die Entwicklungs- und Gesellschaftsgeschichte des Okzidents überliefert sind. Diese Untersuchung nimmt im Kontext des Forschungsstandes eine Neubewertung seiner Religionssoziologie vor. Sie möchte zu einem Zugang zu Webers leitender Fragestellung beitragen und die Grenzen herausfinden, die uns heute von seiner Soziologie trennen.

Vorwort 7

1. Webers Forschungsprogramm  13
   (a)  Zum philosophischen Hintergrund:
         Die nachidealistische Philosophie und die historistische Aufklärung  13
   (b)  Webers Zugangsweise zum Wertproblem  24
   (c)  Religionssoziologie als Typologie und Soziologie des Rationalismus  28

2. Erlösungsreligionen und Lebensführung  39
   (a)  Kulturelle Rationalisierung und externe Implementierung  39
   (b)  Einstellungen zur Welt und die sozialen Trägerschichten  49
   (c)  Typologie gesellschaftlicher Ethiken  68

3. Zu den Fallstudien  81
   (a)  Konfuzianismus  81
   (b)  Buddhismus  91
   (c)  Islam  101
   (d)  Die okzidentale Sonderentwicklung  107
        (i)  Zur Ausgangssituation  107
        (ii)  Judaismus  109
        (iii)  Die christliche Gesellschaftsordnung  112
        (iv)  Asketischer Protestantismus  119

4. Veränderte Fragestellung  127
   (a)  Funktion der Religion  127
   (b)  Multiple Modernities  136

Literatur 143
Namenregister 149
Sachregister 151



Vorwort

Die Wende von der Religionskritik zur Religionssoziologie bei E. Durkheim und M. Weber hat in der Geschichte der Soziologie eine paradigmatische Relevanz für die soziologische Theorie. Sie betrifft das Verständnis des Sozialen. Bei Durkheim ist die Religion die Darstellung des Sozialen in der Gesellschaft, im Rahmen von Webers philosophischer Anthropologie gibt sie Antworten auf die innere und äußere Not. Weber systematisiert die Weltbilder als Weichensteller, wie er es nennt, als eine Typologie und Soziologie des Rationalismus. Sie gibt eine Antwort auf die Dominanz des wissenschaftlichen Rationalismus seiner Zeit und grenzt seinen Anspruch ein. Wie man die beiden Soziologien auch immer einschätzen mag, von ihnen trennt uns mittlerweile die Geschichte des Fachs. Sie hat dazu geführt, dass man an ihr Verständnis des sozio­logischen Gegenstandsbereichs und ihre theoretische Zugangsweise nicht mehr anschließen wird. Weber hat aus unserer gegenwärtigen Sicht gesellschaftsstrukturelle und semantische Veränderungen nicht weitgehend genug getrennt. Es trennt uns von ihnen auch unsere zeit- und gesellschaftsgeschichtliche Erfahrung im 20. Jahrhundert. In der deutschen Soziologie erfolgte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine erneute Systematisierung und Überprüfung der Religionssoziologie Webers, seines Forschungsprogramms und seiner Ergebnisse. Webers Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie sehe ich darin, dass in seiner Soziologie Einsichten in die strukturelle Evolution des Gesellschaftssystems vorliegen, die auf unterschiedliche Versionen von Modernisierung hinweisen. Um diesen Ansatz freizulegen, bedarf es aber einer Reinterpretation und Neubewertung aus unserer gegenwärtigen Sicht. Diese hat S.N. Eisenstadt in seinem Ansatz der ?Multiple Modernities? als Forschungsprogramm der Analyse der kulturellen und sozialen Evolution vorgelegt.

Weber hat aufgrund seines Erkenntnisinteresses an der Entstehung der modernen Gesellschaft die späte Modernisierung nicht weiter erforscht. Das ist aus der Zeitperspektive heraus nachvollziehbar. Vermutlich wäre er dabei auf eine der Multiple Modernities und Modernisierung vergleichbare Problemstellung gestoßen. Es wird von dem Ansatz der Multiple Modernities nicht bestritten, dass sie zu vergleichbaren Problemen und institutionellen Mustern geführt hat. Die Studien Eisenstadts belegen, dass der Umgang mit diesen Problemen und die Ausgestaltung der Institutionen zu keiner einzigen globalen Zivilisation geführt hat. Vielmehr haben die Auswirkungen der politischen, ökonomischen und kulturellen Modernisierungen unterschiedliche Reaktionen, Dynamiken und Gestalten einer modernen Zivilisation entstehen lassen. Insofern geht Eisenstadt über Webers Soziologie hinaus. Für eine fruchtbare Reinterpretation geht die soziologische Theorie von Webers Unterscheidung zwischen den Bedingungen der frühen Moderne und der späten Modernisierung aus. Diese Bedingungen sind unterschiedliche Ausgangsbedingungen der Modernisierung, die wir in die strukturelle Evolution des Gesellschaftssystems einordnen können. Dabei ist davon auszugehen, dass die Bedingungen der späten Modernisierung nicht extensional zu den Bedingungen der frühen Moderne zu interpretieren sind. Sofern wir diese Unterscheidung treffen, können wir Webers Soziologie aus meiner Sicht zwar nicht fortschreiben, aber in einer veränderten Situation der soziologischen Theoriebildung neu würdigen.

Bei der Neubewertung von Webers Religionssoziologie sind 1. seine Fragestellung der Aufstellung einer Typologie der Soziologie des Rationalismus und der Typisierung des Verhältnisses von Ethik und Welt für die Wirtschaftsgesinnung und 2. die von ihm gewählten Vergleichsgesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Schwächen seiner reli­gionssoziologischen Fallstudien bestehen aber nicht nur in den gewählten Vergleichspunkten. Weber beabsichtigte nicht, eine Religions- und Weltgeschichte zu schreiben, er beanspruchte auch keine umfassende Kulturanalyse der in seiner Religionssoziologie untersuchten Zivilisationen. Ihn interessierten auch nicht die Philosophien und ihre Fortschreibung in den jeweiligen Kulturkreisen. Weder der Neokonfuzianismus noch die Fortschreibung der verschiedenen Versionen des Buddhismus und ihre Soziallehren wurden von ihm für seine Darstellung berücksichtigt. Zudem ist heute die philosophische, philologische, wirtschaftsgeschichtliche, soziologische, evolutionstheoretische und archäologische Forschungslage derart fortgeschritten, dass man einem positiven Rückgriff auf seine Systematisierungs- und Forschungsergebnisse eher mit Vorbehalten begegnen wird. Wir haben zur Werttheorie Webers und zum Kantianismus eine Distanz, die kaum zu überbrücken ist. Mittlerweile stehen wir jenseits von Webers Rationalisierungs­theorie sozio-struktureller Veränderungen. Ein anderer Gesichtspunkt betrifft seine Wirkungsgeschichte, von der man nicht absehen kann. Auf sie gehe ich ausgewählt ein. Hervorzuheben ist in diesem Kontext, dass Weber seit den 1940er Jahren vor allem in der Entwicklungs- und Modernisierungstheorie wirkungsgeschichtlich wurde. Das betraf vor allem seine Theorie der Bürokratisierung. Zu erwähnen ist die Reformulierung der Rolle des Charisma von E. Shils. Besonderes Interesse fand auch seine Analyse des Patrimonialismus.

Eine Neubewertung von Webers Religionssoziologie setzt sich offenen Flanken aus. Die Rückzugslinie ist, dass sein theoretischer Ansatz nicht mehr anschlussfähig ist. Eine neue Lesart seiner Religionssoziologie vom Standpunkt der Multiple Modernities führt sein Forschungsprogramm, die Eigenart des okzidentalen Rationalismus zu untersuchen, nicht fort. In Sachen Rationalität wird am weitestgehenden in Philosophie und Soziologie umzudisponieren sein. Damit stoßen wir auf ein grundlegendes Problem der gegenwärtigen soziologischen Theorie und Modernisierungstheorie. Sie geht mittlerweile nicht mehr davon aus, dass die Entwicklung der westlichen Gesellschaft der Moderne von universeller Bedeutung ist. Parsons war der Überzeugung, dass strukturelle Evolution zielgerichtet verläuft. Webers Ansatz ist insofern differenzierter, da sein Begriff der Entwicklungsgeschichte, im Anschluss an H. Rickert, keinen Fortschritt impliziert.

Weber stand keine Evolutionstheorie zur Verfügung, mit der er die strukturelle Evolution des Gesellschaftssystems hätte beschreiben und systematisieren können. Das wurde bereits von Parsons hervorgehoben. Das gilt unabhängig davon, ob wir in Webers Soziologie ein evolutionstheoretisches Minimalprogramm hineinlesen (W. Schluchter) und sie als eine evolutionäre und vergleichende Kultursoziologie resystematisieren. Parsons Anspruch der analytischen Ordnung der allgemeinen Handlungssysteme war es, die Unterscheidung zwischen Ideal- und Realfaktoren zu überwinden. Er erkannte aber nicht, dass es in der modernen Gesellschaft keine Position gibt, von der aus das festgestellt werden könnte, was für ein Funktionssystem erforderlich oder sogar richtig ist. Es fehlt für die Erfüllung der Funktion der Teilsysteme ein Maßstab für die Bewertung ihrer optimalen Aktivität. Mit Parsons Architektur der analytischen Handlungssysteme verfügen wir nicht über einen theoretischen Zugang dazu, dass die Inklusionslogik funktionaler Differenzierung zugleich strukturell Exklusion programmiert. Das führt zur Systematisierung struktureller Evolution des Gesellschaftssystems und zu ihren nicht verarbeitbaren Überschüssen zurück. Evolutionärer Überschuss leitet keinen Lernprozess oder Fortschritt ein. Er kann soziale Systeme auch in die Katastrophe führen. Aus meiner Sicht ist strukturelle Evolution als die Programmierung des Mitgliedschaftscodes und der Veränderung der Mitgliedschaftsbedingung zu untersuchen. Eine Soziologie der Mitgliedschaft eröffnet andere Einsichten in die strukturelle Evolution, die auch für die begrenzte Lernfähigkeit sozialer Systeme sensibilisiert.



Der Autor
Prof. Dr. phil. Gerhard Preyer lehrt Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er gibt die Zeitschrift ProtoSociology An International Journal of Interdisciplinary Research heraus. (www.protosociology.de)

Homepage: https://www.fb03.uni-frankfurt.de/48480132/gpreyer