Sozialität und Reziprozität
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Sozialität und Reziprozität. Strukturale Sozialisationstheorie I (Buch)

Hans-Josef Wagner
Sozialität und Reziprozität
Strukturale Sozialisationstheorie I

168 Seiten, broschiert
Frankfurt am Main 2004
ISBN 978-3-934157-28-6

Buch 24,80 Euro
E-Book (PDF) 16,80 Euro

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Hans-Josef Wagners Entwurf einer strukturalen interdisziplinären Theorie der Sozialisation zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er die objektiven Strukturen, die im Übergang von der Natur zur Kultur neu entstehen und die Grundlage humaner Sozialisation bilden, angemessen berücksichtigt. Im ersten Band wird zunächst der evolutive Übergang von der Natur zur Kultur analysiert. In einer materialen evolutionstheoretischen Perspektive werden die Basistrukturen von Kultur, Geschichte und Lebenspraxis offengelegt. Dabei stehen Fragen wie die folgenden im Vordergrund: Was ist Sozialität? Wie unterscheidet sich die subhumane von der humanen Form der Sozialität? Wie ist Reziprozität zu bestimmen? Wodurch entsteht die menschliche Gesellschaft? Welche Rolle spielen dabei das Inzesttabu bzw. die Regelung der Geschlechterbeziehungen, die Entstehung von Sprache, Regeln und Sinn? Was sind die naturgeschichtlichen Vorläufer des menschlichen Geistes? Fluchtpunkt dieser Fragen ist eine Theorie der objektiven Logik des Sozialen auf erfahrungswissenschaftlicher Basis.

Wagner rekurriert insbesondere auf den Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss, den Pragmatizismus von George Herbert Mead, die Sprachtheorie von Noam Chomsky, den genetischen Strukturalismus von Ulrich Oevermann und neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften, deren Einbeziehung paradigmatisch deutlich macht, daß Sozialisationstheorie zukünftig interdisziplinär zu betreiben ist. Abschließend entfaltet Wagner einen Bestand von Grundbegriffen für eine strukturale Sozialisationstheorie. Besonderes Gewicht hat die Rekonstruktion des Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss, mittels derer ein objektiver Strukturbegriff für die Sozialisationstheorie gewonnen wird. Dieser Begriff verweist auf die Form der Sozialität als zweckfreier Reziprozität, die das Tor zur menschlichen Geschichte öffnet und Kultur erst ermöglicht.

Hans-Josef Wagner, geb. 1951, zuletzt Professur für Soziologie und Sozialpsychologie (Vertretung von Ulrich Oevermann und Alfred Lorenzer) am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Inhalt

Einleitung 9

I. Konstitutionstheorie und Grundlagen

1. Der Lévi-Strauss'sche Strukturalismus: Inzesttabu – Sozialität – Reziprozität 15
1.1. Das Inzestverbot und seine Grundlagen 16
1.2. Inzesttabu – Heiratsregeln – ödipale Triade 26
1.2.1 Exogamie und Endogamie 28
Exkurs: Das Freund-Feind-Schema und die Kategorie des Fremden 29
1.2.2. Duale Organisation und Kreuzkusinenheirat 31
1.2.3. Der erweiterte Tausch 37
1.2.4. Ausfall der Heiratsregeln 39
1.2.5. Die Familialisierung des Vaters 40
1.2.6. Inzestverbot und ödipale Triade 44
1.3. Erziehung, Erfindung und der Generationenvertrag oder: Das Verhältnis von Geben und Nehmen in der Kultur 45
1.4. Die Entstehung objektiver Strukturen 47
1.5. Die basalen geistigen Strukturen der Sozialität 49
1.6. Die Konstruktion von Gegensätzen 53
1.7. Das Inzesttabu und die Entstehung des Neuen – Mit einem Rekurs auf J.R. Searles Sprechakttheorie 55
1.8. Resultate und Kritik 59

2. George Herbert Meads pragmatistische Theorie der Naturgeschichte und Sozialität – Zugleich eine Erweiterung im Lichte neuerer Erkenntnisse 63
2.1. Der soziale Akt 64
2.2. Gestenkommunikation 66
2.3. Vokale Geste als Antizipation der menschlichen Sprache – Perspektivenübernahme – symbolisch vermittelte Gestenkommunikation 69
2.4. Ergänzung der Meadschen Konzeption durch die Neurowissenschaften – Die Entdeckung der Spiegelneuronen (mirror neurons) und ihre Bedeutung für die Enstehung der humanspezifischen Form der Kommunikation 81
2.5. Sinn 84
2.6. Sinn – Zeit – objektive Realität von Perspektiven 87
2.7. Sozialer Akt – Sinn – Zeit 91
2.8. Resultate und Kritik 93

3. Die Universalgrammatik Noam Chomskys und ihre Implikationen für die Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung 94
3.1. Das Kompetenz-Performanz-Paradigma 94
3.2. Implikationen für die Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung 99
3.2.1. Das erkenntnisanthropologische Apriori von Kultur und Lebenspraxis 99
3.2.2. Die Einheit von Transzendentallogik und Erfahrungswissenschaft bzw. von Logik und Empirie 99
3.2.3. Forschungsmethodologie 100
3.2.4. Das intuitive Urteil der Angemessenheit 100
3.2.5. Die Universalität und Invarianz der universalgrammatischen Regeln 101
3.2.6. Die Analyse universeller Handlungsstrukturen als Grundlage von Sozialisationsprozessen 101
3.2.7. Der generative Regelbegriff 102
3.2.8. Kreativität und Bildung 103
3.2.9. Performanzbestimmende Faktoren 103

4. Die Logik des Sozialen 105
4.1. Sinn und Funktion 105
4.2. Der objektive Strukturbegriff 107
4.2.1. Familienforschung 111
4.3. Definition des Strukturbegriffs 111
4.4. Die Einheit der praktischen sozialen Handlung 114
4.5. Strukturale Methode 119
4.6. Materialer Akttext – Protokoll 122
4.7. Strukturale Sozialisationstheorie und genetischer Strukturalismus (Erkenntnistheorie I) 125
4.8. Strukturale Sozialisationstheorie und Neurowissenschaften (Erkenntnistheorie II) 128
4.8.1. Evolution und Kognition 128
4.8.2. Das Gehirn, das Unbewußte und das Handeln – Eine kritische Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften 131
4.8.3. Das Subjekt und das Unbewußte – Ein Überblick 135


II. Grundbegriffe der Sozialisationstheorie

1. Der Grundbegriff der Sozialität 141
2. Regelgeleitete Sozialität – sozialer Akt – Sinn – sozialisatorische Interaktion 142
    Exkurs: Interaktion und Intersubjektivität 144
3. Lebenspraxis – Krise – Routine 145
4. Subjektivität – Autonomie – Identität 148
5. Bewährung 151
6. Gemeinschaft und Gesellschaft 153
7. Methodisches Verstehen 156
8. Kritik 159

Schluß 162

Literatur 163



Einleitung

In dieser Studie geht es um die Grundlegung einer strukturalen interdisziplinären Sozialisationstheorie.1 Eine solche Theorie ist ein dringendes Desiderat, weil nicht wenige Theorien der Sozialisation erhebliche strukturanalytische und interdisziplinäre Defizite aufweisen und daher nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. So werden die objektiven Strukturen, die im Übergang von der Natur zur Kultur neu entstehen und die Grundlage humaner Sozialisation bilden, nicht oder nicht systematisch berücksichtigt. Oftmals wird bei der Nachzeichnung des Sozialisationsprozesses des Subjekts umstandslos von der humanen Ontogenese ausgegangen und deren Einbettung in die Naturgeschichte vernachlässigt. Damit aber geraten die Grundlagen der Sozialisation aus dem Blick. Auch bleiben nach wie vor nicht wenige Theorien auf der Ebene der bloßen Deskription des sozialisatorisch Gegebenen stehen. Eine Sozialisationstheorie aber, die die objektiven, natur- und menschheitsgeschichtlich sich entfaltenden und sich selbst erzeugenden und emergierenden Strukturen vernachlässigt, ist nicht in der Lage, die Sozialisation des Subjekts, die sich wesentlich durch Strukturtransformationsprozesse vollzieht, angemessen darzustellen. Ein weiterer Grund für den defizitären Zustand der Sozialisationstheorie ist die unzureichende bzw. fehlende interdisziplinäre Orientierung.2

Insofern ist es an der Zeit, eine neue strukturale interdisziplinäre Sozialisationstheorie zu entwerfen. Die hier vorliegende Studie konzentriert sich insbesondere auf die naturgeschichtlichen Grundlagen der Sozialisation; eine zweite auf den Prozeß der Sozialisation in der humanen Ontogenese.3 Die Theoriestränge der Naturgeschichte und der humanen Ontogenese werden zunächst analytisch getrennt behandelt, wobei, dem realen Einbettungsverhältnis entsprechend, der Analyse der Naturgeschichte bzw. des Natur-Kultur-Übergangs konstitutionslogisch Priorität eingeräumt wird. Dies verweist schon darauf, daß hier nicht nur das Strukturale, sondern auch das Genetische berücksichtigt wird. Zunächst geht es also darum, auf der Folie einer materialen evolutionstheoretischen Perspektive das Humanspezifische und die Basisstrukturen von Kultur, Geschichte und Lebenspraxis offenzulegen. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Was ist Sozialität? Wie unterscheidet sich die subhumane von der humanen Form der Sozialität? Wie bildet sich die humanspezifische Sozialität heraus, und wie läßt sich ihre objektive Strukturiertheit fassen? Was sind die Basisstrukturen und damit die Bedingungen der Möglichkeit von Kultur, Geschichte und Lebenspraxis? Wie erfolgt nach dem Ausfall der biogrammatischen Programmierung des Verhaltens im Tier-Mensch-Übergangsfeld die Regelung der Geschlechterbeziehungen? Wie entsteht, ausgehend vom sozialen Akt (social act) als einer naturgeschichtlichen Kategorie die humanspezifische Form der Sprache und Kommunikation sowie die Sinnstrukturiertheit humanen Handelns? Was sind die naturgeschichtlichen Vorläufer des menschlichen Geistes?

Zum Aufbau der Studie: Wir beginnen mit einer Erörterung des Inzesttabus. Die Transformation von Natur in Kultur erfolgt vor allem – wenn auch zusammen mit anderen Faktoren (Sprache, Kognition u.a.) – durch das Inzesttabu. Der Ausfall der biogrammatischen Programmierung des Verhaltens im Übergangsfeld vom Tier zum Menschen betrifft auch die sexuelle Reproduktion, so daß die Geschlechterbeziehungen dringend einer Regelung bedürfen. Dies leistet das Inzesttabu. Im Zuge dieser Regelung aber entsteht zugleich etwas Neues, das es in der Naturgeschichte bisher nicht gab, nämlich Kultur, menschliche Gesellschaft und Geschichte. Zu behandeln sind also das Inzesttabu und seine Grundlagen sowie sein Zusammenhang mit den Heiratsregeln und der ödipalen Triade. Hierbei ist es notwendig, unter anderem folgende Themenkomplexe zu erörtern: die Exogamie und Endogamie, die duale Organisation, die Kreuzkusinenheirat, den Ausfall der Heiratsregeln, die Familialisierung des Vaters, den Generationenvertrag. Es geht dabei darum, den Begriff einer objektiven sozialen Struktur sui generis zu gewinnen, die als Basisstruktur von Kultur, Geschichte und Lebenspraxis gelten kann. Zu zeigen ist, daß die regelgeleitete Sozialität als zweckfrei sich reproduzierende Reziprozität diese Funktion erfüllt. Wir stützen uns bei der Rekonstruktion dieser wichtigen Grundlagen wesentlich auf den Lévi-Strauss'schen Strukturalismus.

Mit der Bestimmung der objektiven Strukturiertheit von Sozialität haben wir partiell das Fundament der strukturalen Sozialisationstheorie gelegt. Dieses gilt es nun weiter auszubauen. Dazu bietet sich die pragmatistisch-naturalistische Konzeption von George Herbert Mead an, insbesondere seine Theorie der Naturgeschichte und Sozialität. Mead rekonstruiert in dieser den evolutionsgeschichtlichen Weg zur humanspezifischen Form der Kommunikation. Dabei wird gezeigt, wie vom sozialen Akt (social act) her – gleichsam einer Klammer zwischen Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte – sich qua Gesten (gestures), Gestenkommunikation (conversation of gestures) und vokalen Gesten (vocal gestures) die humanspezifische Kommunikation entwickelt. In diesem Zusammenhang ist auf zentrale Konstituentien des menschlichen Handelns wie Sinn, Zeit und Perspektive einzugehen. Bei dieser Rekonstruktion erfolgt teilweise eine neue Interpretation der Meadschen Theorie, die aufgefüllt und weiterentwickelt wird durch Rekurs u.a. auf die Ethologie (K. Lorenz), die Neurowissenschaften mit ihrer Entdeckung der Spiegelneuronen (G. Rizzolatti, V. Gallese u.a.), die Universalgrammatik (N. Chomsky) sowie den genetischen Strukturalismus (U. Oevermann).

Eine weitere wichtige Grundlage humaner Sozialisation ist die Sprache, präziser die Universalgrammatik. Daher wird im dritten Kapitel die Chomskysche Theorie der Universalgrammatik behandelt. Zunächst wird das Kompetenz-Performanz-Paradigma dargestellt; im Anschluß daran werden dann Implikationen aufgewiesen, die für den Objektbereich der Sozialisationstheorie von besonderer Relevanz sind. Dazu zählen u.a.: das erkenntnis-anthropologische Apriori von Kultur und Lebenspraxis, die Einheit von Transzendentallogik und Erfahrungswissenschaft, die Forschungsmethodologie, das intuitive Urteil der Angemessenheit, die Universalität und Invarianz der Universalgrammatik, der generative Regelbegriff, der Zusammenhang von Kreativität und Bildung, die performanzbestimmenden Faktoren.

Im vierten Kapitel geht es darum, das bis dahin Erörterte für eine Theorie der Logik des Sozialen, die in systematischer Absicht wichtige Grundlagen der Sozialisationstheorie darstellt, fruchtbar zu machen. Im Mittelpunkt steht hier die Fassung eines objektiven Strukturbegriffes. Dieser Strukturbegriff verweist auf ein Drittes, das erst das Tor zur Kultur und zur menschlichen Geschichte öffnet. Dieses Dritte basiert auf einer regelgeleiteten Sozialität, die Historischem schon immer zugrunde liegt. Grundlagentheoretisches Thema ist daher das Verhältnis von Universalität und Historizität. In diesem Zusammenhang wird eine Architektonik von Strukturen unterschiedlicher Geltungsreichweite entworfen. Es folgt eine Neudefinition des Strukturbegriffs, die auf menschliches Handeln im allgemeinen und die Dimensionen des Sozialisatorischen im besonderen zugeschnitten wird. Daran schließt sich eine komprimierte Darstellung der strukturalen Methode im Lichte neuerer Erkenntnisse an. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit der Analyse des Verhältnisses von strukturaler Sozialisationstheorie und genetischem Strukturalismus sowie strukturaler Sozialisationstheorie und Neurowissenschaften.

Zur Konstitution einer strukturalen Sozialisationstheorie gehört der Entwurf eines Bestandes von Grundbegriffen. Es werden daher im zweiten Teil dieser Studie Grundbegriffe neu bestimmt. Zu diesen zählen u.a.: Sozialität, Reziprozität, sozialer Akt, Regelhaftigkeit, Sinn, sozialisatorische Interaktion, Lebenspraxis, Krise, Routine, Subjektivität, Autonomie, Identität, Bewährung, Gemeinschaft, Gesellschaft, methodisches Verstehen und Kritik.


1  Die Studie schließt einerseits an Ulrich Oevermanns Programmatik einer Theorie der Bildungsprozesse des Subjekts an, versucht andererseits jedoch diese aufzufüllen, auszudifferenzieren und fortzuschreiben sowie explizit eine zukünftige interdisziplinäre strukturale Sozialisationstheorie zu entwerfen.
2  In diesem Zusammenhang hat Dieter Geulen nachdrücklich darauf hingewiesen, daß eine zukünftige Sozialisationstheorie interdisziplinär orientiert sein muß. Siehe dazu D. Geulen und H. Veith (Hg.), Sozialisationstheorie interdisziplinär. Aktuelle Perspektiven, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2004.
3  Hans-Josef Wagner, Krise und Sozialisation. Strukturale Sozialisationstheorie II, Frankfurt am Main: Humanities Online (2004).