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Recht und Staat nach menschlichem Maß
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Recht und Staat nach menschlichem Maß

Hans Jörg Sandkühler
Recht und Staat nach menschlichem Maß
Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive

688 Seiten, gebunden
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-942393-52-2
Buchausgabe bei Velbrück Wissenschaft 49,90 Euro

E-Book (PDF) 34,80 Euro

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In diesem Buch geht es um die Konsequenzen, die aus der Grundlegungsfunktion der Menschenwürde und der Menschenrechte für das Recht, die Verfassung, das Internationale Recht, den Nationalstaat und transnationale Staatenverbände sowie die Demokratie zu ziehen sind.

Dieses Buch ist ein auf Fragen des (deutschen) Öffentlichen Rechts – des Verfassungs- und Staatsrechts – und des Völkerrechts konzentriertes Plädoyer gegen metaphysische Konzeptionen des Rechts und für einen vorsichtigen, durch die Menschenrechtsnormen gezähmten, nicht-legalistischen Rechtspositivismus, der Fragen nach der Legitimität von Recht und Staat stellt.

In seiner gemäßigten Version räumt dieser Rechtspositivismus eine teilweise Überlappung von Rechten und moralischen Verpflichtungen ein. Er begründet unter Berücksichtigung des inner- und transgesellschaftlichen Pluralismus und des weltweit tatsächlich bestehenden Rechtspluralismus ? aber im Gegenzug zu Kultur- und Rechtsrelativismus ? die Antwort auf die Frage, welcher Universalismus faktisch möglich ist.
Die Antwort lautet: Voneinander abweichende Begründungen für die Anerkennung der Menschenrechte und des ius cogens sind möglich; deren Implementierung, Anwendung und Schutz hat aber die Grenzen des transkulturell und mit universeller Geltung vereinbarten juridischen Kosmopolitismus zu respektieren.

Unter dem Titel Recht und Staat nach menschlichem Maß soll dieses Buch in einer besonderen Perspektive in die allgemeine Rechts- und Staatstheorie einführen: Es geht um eine von der Rechtnorm der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde ausgehende und durch die positivierten Menschenrechte begründete pluralistische, Rechtspluralismus anerkennende und zugleich nicht durch Kultur- und Rechtsrelativismus unterhöhlte normative Theorie von Recht, Staat und Demokratie. Drei Bezugsquellen spielen bei der Begründung dieser Theorie eine besonders wichtige Rolle. Mit I. Kant geht es um den Vorrang des Rechts vor der Moral, mit H. Kelsen um die Forderung der Neutralität des Rechts gegenüber Religionen, Weltanschauungen und Ideologien und mit G. Radbruch um ein Recht, das nachmetaphysisch dem Maßstab der Gerechtigkeit entspricht.

In Teil I werden zunächst Ausgangsprobleme der Rechts- und Staatstheorie thematisiert. Sie betreffen erstens das angesichts des Pluralismus von Wissenskulturen und Überzeugungen sowie der Wahl epistemologischer Profile, Begriffsrahmen und Theorien mögliche Wissen und die menschenmögliche Gewissheit. Sie beziehen sich zweitens auf die anthropologische conditio humana und die Möglichkeiten des Handelns unter der Voraussetzung des faktischen Pluralismus moralischer und rechtlicher Überzeugungen, Einstellungen und Werte. Das dritte Problemfeld betrifft die Frage, ob die Pluralität von Wissens- und Handlungskulturen sowie faktischer Rechtspluralismus zu Kulturrelativismus führen und ob aus Kulturrelativismus zwangsläufig Rechtsrelativismus folgen muss.
Die Kapitel zum Schutz der Menschenwürde als Verfassungsnorm und zu den Menschenrechten (Teil II) bilden deshalb den Schwerpunkt, weil die Maßstäbe für die Kritik von Recht (Teil III) und Staat (Teil IV) in der Menschenwürdenorm und in den Normen des positiven Menschenrechte-Rechts gegeben sind. Diese Kritik besteht zum einen – mit Kant – in der theoretischen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit (i) ›richtigen‹, d. h. gerechten Rechts, (ii) eines Rechts- und Sozialstaates, der den immer drohenden Macht- und Gewaltstaat bändigt, (iii) eines am Frieden und an den Menschenrechten orientierten Internationalen Rechts auf dem Wege zu einem universellen Konstitutionalismus, d. h. zu einer rechts- und sozialstaatlich verfassten Weltgesellschaft (Teil V) und (iv) der Demokratie (Teil IV). Zum anderen geht es um die praktische Dimension von Kritik: Kritik am Unrecht, das im Namen von Recht und Staat verübt wird, Kritik am politischen und ideologischen Missbrauch der Menschenrechte zur Legitimation ›humanitärer Interventionen‹ unter Berufung auf eine fragwürdige responsibility to protect und unter Missachtung des Gewaltverbots der UN-Charta und Kritik an der Ungerechtigkeit, die durch nicht-staatliche, vom Recht nicht zu legitimierende ökonomische Macht verursacht wird.
Wir müssten uns nicht durch das Recht schützen wollen, wenn unsere Freiheit nicht Freiheit zum Guten und zum Bösen wäre. Es müsste nichts durch das Recht normiert werden, lebten wir bereits im Zeichen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Würdenorm ist als Sollen notwendig, weil die Menschenwürde und die Menschenrechte, die wir aufgrund von Unrechtserfahrungen einklagen, de facto verletzt werden. Die Würdenorm der Verfassung ist nichts Vages; was sie bedeutet, ergibt aus ihrer Konkretisierung in der Gesamtheit der Menschen- und Grundrechte und aus den Urteilen der Verfassungs- und Menschenrechtsgerichtsbarkeit.
Der Schlussteil dieses Buches ist der Frage gewidmet, ob die Grundlage der Demokratie tatsächlich die Souveränität des Volkes ist. Wer sind wir und wie sind wir? Können wir uns mit Gewissheit darauf verlassen, dass dieses ›Wir‹ gerechte Herrschaft garantiert?
Dies ist offensichtlich nicht so. Es geht nicht allein darum, ob wir uns auf das politische System der repräsentativen Demokratie verlassen können. Das Problem liegt tiefer, und die Fragestellung muss erweitert werden: Wer sind wir, von denen die politische Theorie in aller Regel sagt, wir seien der Souverän, wir herrschten, wir seien der Staat, wir seien die Demokratie? Die zur Zeit der Amerikanischen und Französischen Revolution normativ wegweisende, für die Kritik am ancien régime unverzichtbare Idee der Volkssouveränität ist nicht nur aufgrund der Erfahrungen mit den im 20. Jahrhundert im Namen des Volkes und von Völkern verübten Verbrechen problematisch. Heute führt die Berufung der Verfassung auf das ›Volk‹ zur Trennung von Menschenrechten und jenen Grundrechten, die nur den ›Volkszugehörigen‹, den Staatsbürgern, eingeräumt werden. Das Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes zu den Menschenrechten ist so lange fragwürdig, wie den nicht zum ›Volk‹ gehörenden sogenannten ›Fremden‹ Rechte vorenthalten werden können, die ihnen ganz einfach deshalb zustehen, weil sie Menschen sind. Ein drittes Problem stellt – wie Wahlbeteiligungen um 50% zeigen – das Desinteresse des unterstellten Souveräns an der politischen Gestaltung der Demokratie dar. Um den Grund der Demokratie angemessen zu bezeichnen, sollte man statt von der Herrschaft des Volkes von der Herrschaft des Rechts sprechen. Genau dies war auch das Prinzip, das Hans Kelsen schon 1925 in seiner Allgemeinen Staatslehre geltend gemacht hat: Nur insofern ein und dieselbe Rechtsordnung für eine Vielheit von Menschen gilt, bilden sie diese Einheit. Bürgerschaft, citoyenneté, ergibt sich nicht aus Volksgenossenschaft, sondern aus Rechtsgenossenschaft. Dies gilt auch für die Weltbürgerschaft in der sich verrechtlichenden Weltgesellschaft.